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Gina Blüthner

geboren 1961, arbeitet in der Stadtverwaltung Borna

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GINA: Ich bin Verwaltungs-Fachangestellte, in der Stadtverwaltung Borna. Vom Grundberuf bin ich Kinderkrankenschwester und habe das auch gerne gemacht. Vor der Wende habe ich drei Kinder adoptiert. Mein Exmann verdiente damals relativ wenig als Bäcker und deswegen habe ich am Wochenende Nachtschichten im Krankenhaus gearbeitet. Adoptierte Kinder in Einrichtungen stecken, das wollte ich nicht. Es war eine harte Zeit mit den Nachtschichten, aber es war mir wichtig, dass sie nicht gleich wieder in eine Einrichtung kommen. Und jeden Tag mit zu erleben wie die Kinder sich entwickeln, war so wunderbar. Zu DDR-Zeiten gab es ja auch nur dieses eine Babyjahr. Wenn du ein Kind mit anderthalb Jahren in den Haushalt genommen hast, dann hast du keinen Tag bekommen, keinen einzigen, so war das zu DDR-Zeiten. Das ging natürlich nicht. Also wenn du dir vorstellst, wie z.B. mein erstes Kind bei mir ankam. Mittwoch waren wir dort, sollten sie uns „angucken“. Schon das Wort „angucken“, da krieg ich jetzt noch Gänsehaut. Das tut mir richtig weh. Ich bekomme jetzt noch Tränen in die Augen. Die Kleine hat nach einer halben Stunde an mir gehangen und wollte nicht wieder weg, Freitag durften wir sie über das Wochenende holen und dann sollten wir sie am Montag früh zurückbringen. Wir haben sie nicht zurückgebracht. Ich bin zu meinem Chef auf der Arbeit. Ich habe ihm gesagt: „Ich komme nicht mehr arbeiten.“, und bin dann zum Jugendamt. Zu DDR-Zeiten ging das alles so, muss man dazu sagen. Das Wochenende damals, das könnte ich euch jetzt von A bis Z erzählen. Was da so passiert ist, das ist so wie eine Geburt.
1990 war das dritte Kind drei Jahre alt, so dass man sagen konnte: jetzt kann man doch mal wieder voll arbeiten. Aber da hat das Krankenhaus keine Krankenschwester mehr gebraucht – das war ja dann die Wendezeit. Ich hätte meine vier oder acht Nachtschichten in der Woche weitermachen können. Aber das hat dann finanziell nicht mehr gereicht. Ich habe mich überall beworben und wollte Sozialarbeiterin werden und eine Ausbildung dazu machen. Da hat die Stadt mir das zugesagt. Ich habe gekündigt und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme angefangen. Ich bin bei der Stadt irgendwann fest angestellt worden und konnte dadurch nicht mehr die sozialen Sachen machen. Es war die Zeit, wo eben ganz viel Arbeitslosigkeit herrschte. Ich konnte nicht mehr wechseln, und ab 1994 war ich auch alleine mit den drei Kindern und bin dann eben in der städtischen Verwaltung geblieben. Leider wurde die Arbeit in der Stadtverwaltung im sozialen Bereich immer weniger. So freue ich mich schon jetzt auf die Zeit nach meinem aktiven Berufsleben, weil man dann noch mal richtig irgendwelche sozialen Projekte machen kann oder noch mal in den Kindergarten zusätzlich gehen oder irgendwas anderes machen kann. Also mal sehen, was sich so ergibt, wenn man gesund bleibt. Wenn es nicht so ist, dann ist es auch in Ordnung. Mir ist nie langweilig. Es gibt kein Jahr, wo ich nicht mindestens drei ehrenamtliche Sachen mache.

FRIEDER: Wie war das genau mit der Adoption deiner Kinder?

GINA: Vor der Wende habe ich drei Kinder adoptiert, deren Väter waren Vertragsarbeiter aus Mosambik. Neben wirklich viel Zuspruch gab es – das ist jetzt auch nicht anders als damals – auch Probleme. Ich weiß noch, wie ich meinen Sohn auf dem Arm hatte, beim Fleischerstand. Da hat eine Frau zu mir gesagt: “Früher sind die Frauen mit diesen Kindern in die Gaskammer gegangen.“

FRIEDER: Hast du viel solchen Rassismus und Ausgrenzung erlebt oder bei deinen Kindern mitbekommen?

GINA: Eine Freundin von mir hat mal zu mir gesagt: “Du weißt aber schon, dass deine Kinder farbig sind?” Ich war so stolz auf meine Kinder, ich habe es nicht gesehen. Man adoptiert Kinder nicht, weil man selber seine eigene Kinderlosigkeit befriedigen will, sondern man adoptiert Kinder, weil Kinder Eltern brauchen. Das kann nur der Ansatz sein. Deswegen war es auch für mich kein Problem, dass sie eine andere Hautfarbe haben. Ich wollte es nie verheimlichen.
Meine Tochter hat mal einen Angriff auf dem Heimweg von der Schule erlebt. Das war dann schon nach der Wende. Da ist sie von Schülern aus einer anderen Schule belästigt worden und als sie nach Hause gekommen ist, hat sie das erzählt. Ich war damals im Gymnasium Schulelternsprecherin, und dadurch hatte ich einen kurzen Draht zum Direktor. Und er hat dann am nächsten Tag die Schüler ausfindig gemacht und die mussten vor der Klasse antreten und sich bei meiner Tochter entschuldigen. Der Schulleiter reagierte ganz schnell und rigoros. Als meine Kinder anfingen flügge zu werden, konnte ich sie ja nicht in einen Glaskasten sperren. Ich konnte ihnen ja nicht sagen, ihr dürft jetzt nicht auf die Straße, weil ihr nicht weiß seid. Aber ich hatte schon auch Angst. Die Vorfälle in Hoyerswerda 1991 waren bei mir allgegenwärtig. Als meine Tochter Jugendliche war, da konnte sie auch eine Zeit lang nicht mehr Bus fahren. Im Bahnhof haben immer irgendwelche Menschen herumgelungert und auf sie gewartet. Da habe ich sie dann eine Zeit lang nur noch gefahren.

SANDRA: Gerade an die 90er habe ich auch solche Erinnerungen. In der Grundschule wurde ich gefragt: „Rechts oder links?“ Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet, ich habe immer irgendwas geantwortet. Aber die Frage hat schon in jungen Jahren irgendwie eine Rolle gespielt. Und das war ja auch unsere Intention Bon Courage zu gründen, es gab ja die rechte Szene. Das muss ja dann sehr krass gewesen sein für deine Kinder.

GINA: Danke, dass du das sagst, das tut mir jetzt richtig gut. Das bestätigt mir noch mal, dass das wirklich so gewesen ist. Dass viele Ängste auch wirklich da gewesen sind, die ich dann aber wirklich, ich sage mal gut bearbeitet habe und gut damit umgegangen bin. Ich musste meine Kinder trotzdem freilassen und gehen lassen. Ich habe sie nicht festgehalten. Aber das war schon schwer und es gab auch diese wenigen Zwischenfälle. Ich konnte mit meinen Kindern immer über ihre und meine Ängste sprechen. Das würden sie mir glaube ich jetzt auch sagen. Ich muss ehrlich sagen, da ist auch Glauben für mich eine sehr zentrale Adresse, um damit umgehen zu können. Das ist einfach ganz tief drin, dass ich nicht die letzte Instanz bin. Wenn es anders kommt, dann soll es so sein. So vielleicht.
Sie sind auch alle drei gut versorgt, gut aus dem Haus gegangen. Haben ihre Familien, ihre Lebensumstände. Alle haben eine Ausbildung gemacht oder studiert. In den 1990er und 2000er Jahren war es nicht so einfach eine Ausbildung zu bekommen. Für meinen Sohn zum Beispiel war es relativ schwierig, einen Praktikumsplatz zu finden. Bei einer Absage wissen wir auch, dass die Ablehnung der Hautfarbe wegen kam. Die ist auf dem Passbild nicht zu leugnen, das ist eben einfach so. Obwohl sie ja Deutsche sind. Sie sind in Deutschland von deutschen Frauen geboren worden, sie sind Deutsche. Es war nicht nur Zuckerschlecken, wirklich nicht. Aber alles gut. Das Ergebnis zählt und es ist schön.

FRIEDER: Und wie kam es dazu, dass du noch mal Oma geworden bist?

GINA: 2015 wurde hier drüben das Asylbewerberheim aufgemacht. Ich wollte mich eigentlich nie um Ausländer kümmern – nicht, weil ich sie nicht mag als Menschen, sondern wegen der Sprachen. Weil man sich bei der Verständigung so viel Mühe geben muss, das war immer so eine Hemmschwelle für mich. Und dann bin ich da doch eingestiegen und habe bestimmt zwei Jahre mitgemacht.
Es war an einem Dienstag, das weiß ich noch wie heute, da kamen die ersten Asylbewerber an- alles Familien soweit ich mich erinnere. Am nächsten Sonnabend Vormittag bin ich rüber und habe geschaut, ob wir überhaupt Tische oder Stühle haben in einem größeren Raum, wo wir am Sonntag einen Spielenachmittag mit Salzteig – so als Willkommenszeichen – machen wollten. Und ich komme dort raus und treffe vor der Tür eine Frau und einen Mann. Sie sprechen mich an, ob sie helfen können, die beiden. Ich kannte sie nicht, aber ich habe sie eingeladen: „Wir wollen einen Spielenachmittag machen!“ Ich war da voller Euphorie. Was ich mache, mache ich mit ganzem Herzen. Man musste ja den Leuten in dem Moment helfen. Mein Telefonadressbuch hat sich in dieser Zeit wahrscheinlich so um hundert Leute erweitert; ich habe immer sofort alle Namen aufgeschrieben. Da hatten wir jedenfalls unsere erste Begegnung und dann hatten wir im Dezember eine größere Veranstaltung, wo auch der Kinderspielkreis entstanden ist. Da tauchte die Frau wieder auf und wollte im Kinderspielkreis mithelfen, hat ganz viel mitgemacht und hat auch viel übersetzt. Zu dem Zeitpunkt ging es nur darum, welches Kind neues Spielzeug oder Kuscheltiere braucht, um die Kinder mal zu beschäftigen und anzufangen, ihnen ein paar deutsche Begriffe beizubringen. Ich sah die Frau immer wieder. Sie kam zum Spielenachmittag und hat auch, soweit ich das mitbekam, den Menschen ganz viel geholfen. Also wir haben uns immer bloß zwischen Tür und Angel gesprochen, weil man ja gemeinsam anderen geholfen hat. Das war unsere Grundlage. So hatten wir aber nie Zeit miteinander zu sprechen. Nach Weihnachten habe ich dann mal zu ihr gesagt: „Du bist hier immer mit da, du bist doch offensichtlich selber irgendwie …“ – „Ja, wir sind selber auch Flüchtlinge.“ – „Und wollen wir nicht mal zusammen Abendbrot essen? Du bringst deinen Mann mit.“ Ihn hatte ich auch immer mal gesehen. Und dann waren sie im Februar hier, wir haben zusammen gegessen. Und dann haben wir auch ein bisschen nachgefragt und da haben sie angefangen, ihre Geschichte zu erzählen. Damit war eine Freundschaft geboren, die wirklich stark ist. Sie gehören zu unserer Familie dazu. Und dann wurde irgendwann ihre Tochter geboren. Und ja, sie gehört zu mir oder zu uns. Was soll ich dir da jetzt mehr dazu sagen?

FRIEDER: Das war schon alles, was ich wissen wollte.

GINA: Die Frau spricht von mir als ihre deutsche Mutter. Ich habe manchmal zu ihr gesagt: „Du hast eine Mama und die liebt dich und sie ist ganz traurig, dass du nicht da bist.“ Und dann hat sie auch mal zu mir gesagt, dass das mit ihrer Mutter wirklich geklärt ist, und dass ihre Mutter so froh und dankbar ist, dass wir hier da sind. Wir haben auch schon miteinander mit Video telefoniert. Also Hallo sagen und sich anlächeln – die Sprachunterschiede machen mehr nicht möglich.

FRIEDER: Und du spielst Orgel? Wie kam es dazu?

GINA: Als Kind wollte ich gerne Klavier spielen. Ich war das erste von vier Kindern und meine Eltern hatten einfach weder das Geld noch die Kapazitäten ein Klavier zu stellen. Und da habe ich dann mit Gitarre angefangen. Zu DDR-Zeiten war das ja nicht so mit Musikunterricht, wie man ihn sich heute vorstellt. Ich kann mich an den alten Gitarrenlehrer noch gut erinnern. Ganz lieber Mann, aber gelernt habe ich nicht viel, weil der immer wieder mit allen von vorn angefangen hat und alle mitnehmen wollte. Es war ja immer Gruppenunterricht. Irgendwann gab es einen Osterspaziergang mit den Familien und dem Pfarrer unserer katholischen Gemeinde und da hat mein Vater mit ihm gesprochen. Irgendwie sind sie drauf gekommen, dass sie Organisten brauchen. Da hat mein Vater gesagt, meine Tochter will so gern, ich war vielleicht 12 oder so. Meine damalige Freundin und ich, wir beide haben dann zusammen bei dem Organisten, der damals in der Gemeinde Orgel gespielt hat, angefangen Harmonium spielen zu lernen. Ich weiß das noch wie heute. Wir haben im September mit dem Schuljahresbeginn angefangen. Dann haben wir ein Jahr gelernt und im nächsten September nach den Sommerferien kam er und hat gesagt: „Im Oktober spielt ihr euren ersten Gottesdienst.“ Da war nämlich Kirchweih und er war nicht da an dem Wochenende. Dann hat jede von uns vom 1. September bis zu dem Kirchweihfest Anfang Oktober drei Lieder gelernt, dreistimmig, bloß auf dem Harmonium. Dann mussten wir das erste Mal an die große Orgel, da durften wir sonst nicht ran, wir durften sonst nur am Harmonium üben. Jede drei Lieder, eine das Vorspiel, eine das Nachspiel.
Zu Weihnachten hatte dann jede ihren eigenen Gottesdienst, also von Oktober bis Weihnachten haben wir Weihnachtslieder gelernt. Da gab es ja noch ganz viele katholische Gemeinden in der ganzen Umgebung, mit noch überall regelmäßigem Gottesdienst. Dann haben wir regelmäßig die Orte gewechselt, jede hatte andere Lieder gelernt, damit die Gemeinde nicht zu jedem Gottesdienst das selbe Lied singen musste. Ab Januar haben wir wirklich manchmal vier, fünf Gottesdienste jedes Wochenende georgelt. Also alle vier Wochen war dann auch in Großzössen Gottesdienst und da konnte es passieren, dass wir Sonnabend drei und Sonntag zwei hatten. Die Regel war, dass wir jede drei Gottesdienste hatte und da haben wir auch immer wieder gewechselt. Der Pfarrer musste sich die ersten Monate nach dem richten, was wir eben gerade gelernt hatten. Danach bin ich ja zur Ausbildung und so, und ich habe immer weiter irgendwie Orgel gespielt, aber nicht mehr in der Intensität. Die Gottesdienste nahmen ja auch ab, ist ja immer weniger geworden. Dann hatte ich die drei Kinder adoptiert und habe immer weiter – wenn auch weniger – in der Kirche Orgel gespielt. Zum Schluss eigentlich nur noch einer oder so.
Dann weit nach der Wende, so 2006, 2007 ungefähr, da sagte mein Mann: „Kauf dir doch eine Orgel.“ Da habe ich gedacht: du spinnst. Und dann sind wir in den Westen, ich weiß den Ort jetzt nicht mehr, haben mal geguckt und haben dann die Orgel gekauft. Ich konnte bis dahin kein Pedal und nichts, und eben nur dreistimmig spielen. Und wenn du ein bisschen Ahnung hast, Orgel spielen ist mehr als nur dreistimmig. Aber mehr hatten wir ja nicht gelernt. Es ging ja darum, die Gemeinde zu begleiten. Und dann habe ich mir die Orgel gekauft, und da war ich so stolz. Und dann habe ich mir mein Buch genommen, mit dem ich gelernt hatte, und habe angefangen, die ersten Pedalübungen zu machen, so bisschen selber und habe mich so gefreut. Dann war in der evangelischen Gemeinde einmal ein Weinabend. Und da haben wir so in fröhlicher Runde zusammengesessen und da habe ich das erzählt, voller Freude. Da sagte der damalige Superintendent: “Na, du kannst bei uns Orgelausbildung machen.” Da hab ich gesagt: “Wie bitte?” Ich hab das vorher nie gedurft, nie gekonnt. Und dann habe ich mit 47 Jahren bei der Evangelischen Kirche beim Kantor eine Orgelausbildung gemacht. Mit 50 Jahren habe ich die Prüfung abgelegt, die Kantoren-Prüfung. Und seitdem spiele ich also auch Orgelliteratur und mit Pedal. Natürlich brauche ich Pfarrer, die mir die Lieder nicht erst am Freitag geben, sondern schon am Mittwoch oder am Dienstag. Also jetzt mittlerweile ist das Repertoire auch da, aber ich kann nicht vierstimmig vom Blatt spielen.

SANDRA: Und was ist aus der Orgel geworden?

GINA: Die steht oben.

SANDRA: Ist wahrscheinlich das einzige Haus in Borna mit einer Orgel.

GINA: Nee, das glaube ich nicht. Also der Kantor hat glaub ich auch eine. Und ich denke auch meine damalige Freundin.

FRIEDER: Wie hat sich die Stadt verändert?

GINA: Borna hat sich sehr verändert. Das ist doch eine Wandlung um 180 Grad. Ich weiß, dass meine Eltern früher ganz gern mit uns in den Urlaub gefahren sind. Die ersten Jahre an die Ostsee und später nach Mecklenburg, das war für uns immer Befreiung. Luft holen können, Freiheit haben, raus. Also kein dreckiger Teller, wenn man diesen mal eine Stunde draußen stehen lassen hatte. Auf dem Rückweg haben wir immer gemerkt, dass wir in Espenhain sind, weil es plötzlich gestunken hat, aber richtig gestunken. Mein Vater hatte zeitig einen Trabi. Dann sind wir los, einfach um ein bisschen Wald zu haben, um atmen zu können. Mein Mann sagt, er hat oft mit seinen Freunden am Schacht in Borna Nord gespielt. Das habe ich alles nicht und ich habe Bornas Umgebung, die Tagebaue, eigentlich nur negativ in Erinnerung.
Als Krankenschwester war es schlimm mitzuerleben, wenn Kinder abends Pseudokrupp-Anfälle hatten, weil wieder irgendwelche Abgasfilter in den Werken aufgemacht wurden. Dann hatte ich selbst Kinder. Ich weiß das noch wie heute, als mein Sohn eine Bronchitis nach der anderen hatte. Als Kinderkrankenschwester weiß man, was das ständige Einnehmen von Antibiotika bedeutet. Mein Bruder lebte in Bad Saarow. Also sind wir kurzerhand drei Wochen zu ihm gefahren und mein Kind wurde ohne Antibiotikum gesund. Die Luftveränderung hat einfach gewirkt. Nach der Wende wurde es schlagartig besser, die Kohlekraftwerke wurden abgestellt und jede Esse, die nicht mehr sonst was rauspulverte, war eine Verbesserung. Wir können jetzt aus der Haustür heraustreten und in jede Richtung loslaufen, Fahrrad fahren oder in den umliegenden Seen paddeln. Das ist einfach herrlich. Also Umwelt ist für mich wirklich ein wichtiger Aspekt.
Allerdings hatte die Schließung der Werke auch eine zweite Seite. Es gab viel Arbeitslosigkeit. Also mich hat es weniger getroffen, weil ich zu diesem Zeitpunkt in der Stadtverwaltung angestellt war. Ich habe das in meinen Kreisen eben nicht so wahrgenommen, weil da waren nicht so Bergarbeiter, die in den Werken gearbeitet haben. Ich habe eher Wende Erinnerungen, wie gerade aus katholischen oder aus christlichen Kreisen Menschen dann in die Politik gegangen sind. Aber es gibt schon viele Menschen, gerade meines Alters, die arbeitslos geworden sind.

SANDRA: Wenn du die jetzt mal so vergleichst, die Generation deiner Enkelkinder, deiner Kinder und deine eigene, was bietet die Stadt für Möglichkeiten bzw. nicht? Was hattest du zum Beispiel damals, was es heute nicht mehr gibt? Oder genauso andersherum?

GINA: Also man war zu DDR-Zeiten viel freier als Kind und konnte auch einfach mal losgehen. Heutzutage, da sind die Kinder sehr behütet. Ich kann mich nicht erinnern, dass Kinder damals in die Schule gebracht worden sind. Auch ich habe meine Kinder eigentlich nicht in die Schule gebracht. Das ist ja heute unvorstellbar, auch meine Enkelkinder werden in die Schule gebracht. Das ist zum Beispiel ein gravierender Punkt, das hat aber nichts mit Umwelt zu tun, sondern mit gesellschaftlichen Aspekten. Dann hat sich meine Generation keine Sorgen um den Beruf machen müssen. Wir haben alle einen Arbeitsplatz gekriegt. Das ging in der 7., 8. Klasse los, dass wir da schon „Orientierung“ hatten.

Ich wollte raus aus dem System, deswegen habe ich eine kirchliche Ausbildung gemacht. Ich hatte Gott sei Dank einen guten Staatsbürgerkunde-Lehrer in der zehnten Klasse. Er hat mich nicht zu Aussagen gezwungen, die ich nicht machen wollte. Aber ich war auch Klassenspitze mit noch zwei anderen, die auch Christen waren und wir haben unsere Meinung gesagt. Ich bin erst in der dritten Klasse Jungpionier geworden, das weiß ich noch sehr gut. Das weiß ich nicht durch Erzählungen, sondern das ist noch sehr in mir, dass in der dritten Klasse meine Oma gedrängelt hat: „Du kriegst Schwierigkeiten!“ Wie sie es mir gesagt hat, das weiß ich nicht mehr wörtlich, aber ich bin erst in der dritten Klasse eingetreten. Mein Vater hat mich schon auch beeinflusst, das ist ganz klar. In der FDJ war ich dann sehr aktiv. Und dann habe ich das so begründet: Ich war immer aktiver Christ, aber ich bin in der FDJ aktiv gewesen, weil ich wissen wollte, was in dem Laden hier läuft. Die hatten es mit mir nicht einfach.
Was ich auch noch weiß: Das erste mal Wählen. Da war ich auf alle Fälle dann schon zur Ausbildung in Halle, aber hier bei uns gemeldet. Und ich wollte nicht zur Wahl gehen, aber meine Mutter: „Geh, geh, geh zur Wahl!“ Bis ich nachmittags irgendwann gegangen bin. Da hatte sie mich dann ziemlich weich geprügelt – im übertragenen Sinn – da meinen Zettel rein stecken zu gehen. Ich bin nicht in die Kabine. Also den Mut hatte ich dann auch nicht. Eigentlich wollte ich gar nicht gehen.
Ich habe total gelitten unter diesem System. Wahrscheinlich auch, weil mein Vater so gelitten hat. Er hat dann versucht, sich irgendwie anzupassen. Nee, nee, nee, angepasst hat er sich nicht. Mein Vater hat sich nicht angepasst, er hat versucht, sich so ruhig zu verhalten, dass wir nicht in Schwierigkeiten kommen. So vielleicht.
Also ich wollte eigentlich Lehrerin werden. Das war mein tiefster Wunsch. Aber zu DDR-Zeiten eben. Und ich bin nicht zur Jugendweihe gegangen. Als ich den Zettel von der Jugendweihe mit nach Hause gebracht habe, habe ich meinem Vater den Zettel hingegeben. Es war ja klar, dass er den unterschreibt, und damit wäre die Sache erledigt gewesen. Er hat ihn aber nicht unterschrieben, und hat zu mir gesagt: „Warum willst du nicht zur Jugendweihe?“ Ich hatte da überhaupt nicht drüber nachgedacht, weil das klar war, dass ich nicht zur Jungendweihe gehe. Wenn ich mit ihm diskutiert hätte, bis aufs Messer, ich will gehen, dann hätte er wahrscheinlich auch nachgegeben, also wäre er auch über seinen Schatten gesprungen. Aber das hätte ich wieder nicht gemacht, das war klar. Und trotzdem brauchte er dann Argumente, warum ich nicht zur Jugendweihe gehe. Wie gesagt, ich war in der FDJ zu dem Zeitpunkt.
Dann ging es ums Gymnasium und das lag an mir, dass ich nicht aufs Gymnasium gegangen bin. Weil ich da nicht hinwollte, weil ich den Kanal voll hatte. Auf alle Fälle wollten die dann, dass ich aufs Gymnasium gehe. Aber ich wollte eigentlich nicht in dieses Schulsystem gehen. Und 8. Klasse Halbjahr waren glaube ich die Zensuren, wo entschieden wurde, wer dann zum Gymnasium geht. Da hatte ich so schlechte Zensuren wie in keinem anderen Halbjahr, damit ich eben nicht gehen konnte.
In der 10. Klasse war diese Auswahl zum Beruf und da brauchte man eine Sprachprüfung. Es gibt ja Lehrer, die dann ausfallen, weil sie diese Belastung der Stimme nicht aushalten. Ich hatte nie irgendwelche Schwierigkeiten mit der Stimme, also mein ganzes Leben lang war die Stimme vielleicht drei Mal durch eine Erkältung weg oder so. Aber Ansonsten rede und quassele ich viel, wie man merkt. Trotzdem habe ich diesen Sprachtest nicht bestanden. Ob das daran lag, dass ich nicht Lehrerin werden sollte in diesem System, ob ich doch eine Stasi-Akte hatte oder … das weiß ich alles nicht. Auf alle Fälle bin ich dann aus dem System raus und bin nach der 10. Klasse in die kirchliche Ausbildung.

FRIEDER: Gibt es aus deiner Sicht auch so ein Miteinander in der Stadt oder ist es schon eher so ein Nebeneinander?

GINA: Naja, wenn ich jetzt hier einfach in eine Runde gehen will, um mal nicht über Kochrezepte und Autoreifen zu quatschen – das fehlt mir in Borna, das finde ich in Borna nicht. Das finde ich in katholischen, in christlichen Kreisen, also wir haben einen Hauskreis, wo wir dann schon mal mehr als über Kochrezepte reden. Und das muss auch nicht immer nur sein, dass wir die Bibel auslegen oder so, sondern einfach ein bisschen, also ich sage jetzt mal intellektueller ins Gespräch kommen. Aber das fehlt mir sonst in Borna, ich weiß nicht wo man in Borna hingehen könnte, um sich mal so auf einer intellektuelleren Ebene auszutauschen. Also ich will jetzt nicht, dass man nur in höheren Sphären schweben muss. Ich weiß nicht, ob ihr versteht, was ich meine.

SANDRA: Es fehlt ja, also wenn ich das jetzt richtig sehe, generell an einem Ort oder? Und neue Orte werden nicht angenommen. Aber wenn du jetzt so zurückdenkst, gab es früher für dich solche Orte?

GINA: Ja, die Gemeinde, Gemeindejugend. In der Jugendgruppe, da war der Austausch da. Aber eben innerhalb der Gemeinde. Also ich war da in so einem geschlossenen Rahmen zu DDR-Zeiten und wollte aus dem auch nicht raus. Also nee, das stimmt ja nicht, weil ich auch in der FDJ aktiv gewesen bin. Aber das war keine Erfüllung für mich – “Proletarier aller Länder vereinigt euch!” in der Schulzeit da habe ich das mit ganzer Hingabe gemacht. Ich wollte das System verstehen. Ich war eine der ersten, die das Rote Halstuch gekriegt hat in Leipzig. Und noch einen Pionier-Anorak dazu, weil wir aus einer großen Familie kamen. Und in großen Familien, da kriegten die Kinder dann einen Pionier-Anorak. Das Emblem, das da drauf war, wollte ich mit einem „Schwerter zu Flugscharen“ Emblem zumachen. Da hat meine Mutter gestreikt was das Zeug hält. Das Abzeichen abmachen sollte ich am wenigsten, denn da entstehen Löcher. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir das abgemacht haben oder was drauf gemacht. Aber mit dem Emblem wäre ich nicht rumgelaufen. Aber den Anorak hab ich schon angezogen, weil es gab nichts und meine Eltern waren nicht so reich.

SANDRA: Und bist du irgendwie so ins Stadtkulturhaus oder was es da früher so für Kulturorte gab?

GINA: Also als jüngere Jugendliche. Dann war es aber eher so, dass ich mit dabei gewesen bin. Habe zum Beispiel oft Gedichte bei irgendwelchen Veranstaltungen aufgesagt. Da hat mich aber nicht interessiert, was das für eine Veranstaltung gewesen ist. Und das war auch nicht so oft. Ich habe ja dann schon als junger Mensch viel Orgel gespielt und das war ja auch wieder ein innerkirchlicher Kreis.

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