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Hazar Dahhan

geboren 1991, sucht aktuell eine Ausbildung

Portrait von Hazar

HAZAR: Mein Name ist Hazar. Ich wohne jetzt seit drei Jahren mit meiner Familie in Borna. Meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und meine Schwester. Ich habe noch einen Bruder, der ist aber in Dänemark. Wir sind sechs Personen. Früher waren wir sieben.
Ich bin in Aleppo geboren und habe 20 Jahre in Syrien gelebt. Mein Land ist groß und schön. Aber seit dem Krieg ist es schlimm. Einer meiner Brüder ist dort gestorben. Er war auf der Straße arbeiten. Dann kam eine Bombe und so ist er gestorben. Als er tot war, wurde es sehr schwierig für uns und wir konnten nicht mehr dort leben. Deswegen sind wir nach Venezuela, wo unsere Mutter geboren ist. Dort haben wir dann fünf Jahre gelebt. Venezuela ist auch ein großes und schönes Land. Die Natur dort ist sehr schön. Dort zu überleben, war aber zu schwierig. Wir arbeiteten von der Wohnung aus. Wir kochten Essen und verkauften es an die Leute. Die ökonomische Situation in dem Land ist sehr schlecht und vielen Leuten geht es nicht gut damit. Wir haben überlegt, wo wir hingehen können und sind bei der Suche darauf gestoßen, dass ein Leben in Deutschland besser für uns ist. Zugang zu Ausbildung, Arbeit, Studium und viele andere Sachen sind hier einfacher, also sind wir hierher gekommen.
Aber es war schwierig. In jedem Land muss man sich wieder hinsetzen und viele neue Sachen lernen. In Syrien habe ich nur Arabisch gesprochen. Als wir in Venezuela gearbeitet haben, mussten wir Spanisch lernen. Ich habe dort auch als Arabisch-Lehrerin gearbeitet. Für einen Venezolaner und auch in einer Schule. Hier ist wieder ein anderes Land, eine andere Kultur, eine andere Sprache und viele andere Sachen. Du musst alles neu lernen und verstehen was was bedeutet. Es ist sehr schwierig, nochmal alles von vorne anzufangen.

FRIEDER: Wo habt ihr dann in Venezuela gelebt?

HAZAR: Zuerst haben wir ein Jahr und acht Monate in einer kleinen Stadt bei San Antonio gewohnt. Wir sind dann in die große Stadt Maracay gezogen und dann nach Caracas. Das ist auch eine große Stadt, wo es alles gibt, wie in Leipzig. Wir sind dort hingegangen, um uns um unsere Papiere und Staatsangehörigkeit zu kümmern und haben dort dann auch gelebt.
In Venezuela sind die Leute nett und helfen dir gerne, wenn du die Sprache nicht so gut kannst. Aber es ist ein großes Problem, wenn man allein in der Straße ist. Da gibt es Überfälle. Da kommen Menschen mit Waffen, die dein Handy und dein Geld wollen. Du kannst kein Handy mitnehmen, wenn du auf die Straße gehst. Ich habe gehört, dass eine Person mit einer goldfarbenen Uhr überfallen wurde. Sie sollte die Uhr hergeben, aber als sie gesagt hat, dass die nicht wirklich aus Gold sei und sie die nicht hergeben wollte, wurde sie erschossen. Das ist schlimm. Mein Vater ist eines Tages mit dem Essen, was wir in der Wohnung gekocht haben, auf die Straße gegangen, um es zu verkaufen. Da ist vor seinen Augen eine Frau und ein Mann ermordet worden. Wofür? Vielleicht nur für ein Handy. Deswegen bin ich nicht mehr allein auf die Straße gegangen. Nur noch mit meinem Vater, oder meinem Bruder. Für meinen Bruder, meinen Vater und für viele Männer war es einfacher.

SANDRA: Wie kommt es denn, dass deine Mutter Venezolanerin ist?

HAZAR: Vor vielen Jahren sind meine Großeltern von Syrien nach Venezuela zum Arbeiten gezogen und haben viele Jahre dort gelebt. Meine Oma hat alle ihre Kinder dort geboren. Als meine Mutter fünfzehn Jahre alt und groß genug war, ist sie mit meiner Oma zurück nach Syrien, um die Kultur kennenzulernen. Meine Mutter hat dort meinen Vater geheiratet und wir wurden dann in Syrien geboren. Meine Oma wohnt jetzt in Aleppo. Es ist schwierig für sie dort. Vor drei Tagen haben wir telefoniert. Sie ist da jetzt mit meinem Onkel alleine.

FRIEDER: Vermisst du manchmal Venezuela oder auch Aleppo?

HAZAR: Meine Stadt Aleppo vermisse ich mehr, weil es in mein Land ist. Manchmal, wenn ich viel über Venezuela höre, dann vermisse ich es auch. In Syrien liebe ich es, aber ich will nicht zurück. Nur zu Besuch. Ich habe viele Sachen hier und kein Leben mehr dort. Es ist auch schwer zu hören, wie die Leute da jetzt leben und was sie für Probleme haben. Strom und Wasser sind zum Beispiel nicht so leicht zugänglich. Und wenn ich über meinen dort verstorbenen Bruder nachdenke, dann bin ich mir sicher, dass ich nicht dort hin zurück möchte. Meine Freunde haben mich mal gefragt, ob ich, nach dem Krieg oder wenn der Präsident nicht mehr an der Macht und es wieder gut im Land ist, zurück nach Syrien will. Nein, ich will nicht zurück nach Syrien. Wenn überhaupt, dann nach Venezuela. Mein Bruder ist in Syrien gestorben und das ist sehr schwer für mich. Das kann ich nicht.
In Syrien habe ich nur meine Muttersprache gesprochen. Natürlich gab es auf der Schule auch Englisch und Französisch. Ich habe aber nur Englisch gelernt und nur ein Jahr Französisch, das hab ich danach wieder vergessen. Ich habe da nur meine Kultur kennengelernt, nichts anderes. Jetzt habe ich viele Kulturen aus vielen Ländern kennengelernt. Jetzt verstehe ich mehr, was es in anderen Kulturen gibt. Davor kannte ich das alles nicht. Es gab in Venezuela auch viele neue Sachen, da haben wir viel gelernt. Hier in Deutschland gibt es auch viele neue Sachen. Die Post funktioniert zum Beispiel in Venezuela nicht. In Syrien gibt es das auch nicht wirklich. Wenn ich hier eine Bewerbung für eine Ausbildung schicke, muss ich die Adresse und den Namen auf den Brief schreiben. Das hab ich erst hier gelernt. Das gefällt mir, mit Papier zu arbeiten und nicht alles mit dem Computer zu machen. Wir lesen auch alle und es gibt viele Bücher, die man lesen kann. Ich mag das. Außer wenn die Briefe vom Jobcenter kommen.
Noch etwas Gutes ist, dass es nachts leise ist. In Venezuela oder auch in Syrien ist das ganz anders. In Venezuela hören die Leute super laut Musik im Auto und wir konnten oft bis drei Uhr nachts nicht schlafen. Wir waren in der dritten Etage und da war es sehr laut von der Straße. So etwas verstehe ich nicht. Mir gefällt in Deutschland, dass es ab acht einfach ruhig ist. In Venezuela gab es keinen Respekt dafür.

Ich habe auch immer in großen Städten gelebt und war immer unter vielen Leuten. Jetzt, wo wir in Borna wohnen, ist das ungewohnt. Es gibt hier nicht so viele Geschäfte. Aber andererseits ist es schön ruhig. Es ist klein und gut. Nach zwei Monaten hat es sich schon normal angefühlt. Außerdem gibt es in großen Städten so viel Müll auf der Straße. Hier ist es schön sauber. In meinem Land musst du dir schon Kilometer vor der Mülldeponie die Nase zuhalten. In Venezuela ist der Geruch auch schlecht. Hier stinkt es nicht. Papier, Biomüll und Plastik werden getrennt. Das ist eine sehr gute Sache.
Eine Sache, die mir hier nicht gefällt, ist, dass es beim Lidl keine Bushaltestelle gibt und ich bis zum Bahnhof fahren muss, um dahin zu kommen. Ich habe das schon von vielen gehört, dass sie dort eine Haltestelle wollen. Ich denke, das wäre gut, weil es neben dem Lidl auch eine Volkshochschule gibt. Ich kenne eine sehr alte Lehrerin, die zum Arbeiten aus Leipzig nach Borna kommt. Sie fährt jeden Tag in diese Schule und muss danach wieder zurück zum Bahnhof laufen, um nach Leipzig zu fahren.

SANDRA: Gibt es etwas anderes, was du dir wünscht?

HAZAR: Es gibt auch ein paar nicht so nette Leute hier, aber nicht alle sind so. Manchmal lachen mich Leute aus, wenn sie hören, wie ich Deutsch spreche. Einige sind auch unfreundlich zu mir, weil ich Ausländerin bin. Das sind aber nur wenige Leute.

SANDRA: Hattest du schon Probleme wegen deines Kopftuches?

HAZAR: Einmal, ja. Es fällt mir schwer, aber ich kann es erzählen. Am Anfang sind wir einmal zu Netto zum Einkaufen gegangen und da habe ich gehört, dass über mich geredet wurde. Ich habe es verstanden, aber ich habe nichts gesagt. Dieser Mann hat seine Freunde gefragt, warum wir hierherkommen und warum wir eine andere Religion haben. Er hat auch über meinen Hidschāb geredet. Ich habe es gehört und verstanden, aber nichts gesagt. Mein Deutsch war nur auf A2-Niveau und konnte nicht antworten. Viele Leute hier reden über uns, über Ausländer. Ich habe nichts gesagt. Ich habe nur zugehört. Er meinte zu seinen Freunden, dass ich ja auch kein Deutsch spreche. Als er an mir vorbeigegangen ist, habe ich „Hallo“ gesagt und gelacht. Ich habe ihn nicht gefragt, warum er ohne uns über uns spricht.

FRIEDER: Was würdest du heute diesem Mann im Supermarkt sagen?

HAZAR: Als ich „Hallo“ gesagt habe, ist er nur weggegangen und hat nichts mehr gesagt. Jetzt würde ich etwas sagen, aber damals war ich schüchtern und hatte Angst, weil mein Deutsch nicht so gut war. Heute könnte ich ihn fragen, warum er solche Sachen sagt. Ich würde ihm sagen, dass ich Deutsch sprechen lerne. Dass ich eine Arbeit und eine Ausbildung suche. Ich würde ihm sagen, dass er nicht in einem Land lebt, wo es einen Krieg gibt und dass er nicht fliehen musste. Alles neu lernen und von vorne anfangen musste, nur um dann dort auch in einer schlechten ökonomischen Situation zu sein und auf der Straße zu leben. Danach kamen wir hierher und das war einfach schwierig. Heute könnte ich ihm erklären, dass er hier einfach normal leben konnte und das alles nicht durchmachen musste. Für ihn ist alles in Ordnung und gut. Er musste all das nicht durchleben. Das würde ich ihm jetzt erklären. Damals hatte ich zu viel Angst.

SANDRA: Wie fühlt sich das an, wenn du so etwas hörst oder die Leute komisch gucken?

HAZAR: Es ist schwierig, wenn du einer Person von Anfang an nicht gefällst. Das ist Rassismus. Manchmal geht es nur darum, dass die Leute eine andere Hautfarbe haben.

SANDRA: Wünschst du dir, dass die Leute aus Borna verstehen, was es bedeutet, aus einem Krieg zu kommen? Was es heißt, in einem neuen Land von vorne anzufangen und eine neue Sprache zu lernen?

HAZAR: Viele Leute wissen das, aber sie verstehen nicht, was das bedeutet, weil sie nicht aus einem anderen Land sind. Der Lehrer, der mich unterrichtet, hat gesagt, dass er viel über den Krieg in Syrien gelernt hat. Er versteht das etwas mehr. Die meisten Leute belesen sich nicht dazu und verstehen dann auch nicht, was das für Menschen, die dort gelebt haben, bedeutet. Viele Menschen haben viele Wunden davon getragen. Nur diese Leute verstehen, was das bedeutet.

SANDRA: Du bist ja Muslima. Wo treffen sich Muslime in Borna?

HAZAR: In der Moschee. Am Freitag zum Beispiel. Manchmal besuchen sich die Leute auch gegenseitig.

SANDRA: Wenn Ramadan ist, sind zum Fastenbrechen in arabischen Ländern die Leute am Feiern auf den Straßen. Wie macht ihr das hier in Borna?

HAZAR: So etwas gibt es hier nicht. Hier haben wir eine Familie kennengelernt, mit der wir uns treffen, bei ihnen zu Hause und bei uns. Wir essen und verbringen Zeit zusammen. Danach gehen wir zurück nach Hause. Manchmal gehen wir ins Restaurant, spielen Fußball, gehen an die Seen, fahren zusammen Fahrrad. Während des Ramadan sind alle zu Hause in der Wohnung.

SANDRA: Ist es schwerer, Ramadan in Deutschland zu machen, als in Syrien?

HAZAR: Vor drei Jahren war es schwierig. In Venezuela sind die Sonnenuntergangszeiten so ähnlich wie in Syrien. Als wir nach Deutschland gekommen sind, konnten wir beim ersten Ramadan erst um elf Uhr nachts essen. Wir mussten sehr lange fasten, weil die Sonne so spät untergegangen ist. Dann mussten wir manchmal um zwei Uhr nochmal aufstehen und essen. Zwischen elf und zwei ist nicht so viel Zeit. Wir konnten dann ja auch nicht schlafen, weil wir noch essen mussten. Das zweite Mal war es besser und jetzt ist es viel leichter gewesen, weil der Ramadan schon früher im Jahr war.

FRIEDER: In Syrien machen auch ganz viele Menschen Ramadan und hier ja nicht so viele.

HAZAR: Das ist ein bisschen schwer. Wenn ich zur Schule gehe, essen und trinken viele Leute und ich sehe das. Da muss ich weggucken. Man muss ja auch Respekt vor den Leuten haben, die essen. Man muss üben, sich zu beherrschen. Wenn mir jemand etwas anbietet, kann ich das ja auch nicht annehmen.

SANDRA: Hast du viel Kontakt mit Leuten aus Borna, die nicht arabisch sind?

HAZAR: Also mit Deutschen? Es gibt viele Frauen, mit denen ich auf der Straße spreche, aber ich weiß deren Namen nicht. Meine Nachbarn sind auch sehr nett. Ich spreche aber selten mit meinen Nachbarn. Wir haben mal etwas im Internet bestellt und ich habe meine Nachbarn gefragt, ob es bei ihnen angekommen ist. Sie haben das Paket angenommen und unterschrieben.

SANDRA: Ist es schwer, in Kontakt zu kommen?

HAZAR: Für mich nicht. Wenn ich Zug fahre, spreche ich auch mit vielen Leuten. Wenn jemand hier in Deutschland Ausländer sieht, die Deutsch sprechen, sprechen sie mit ihnen. Das ist sehr wichtig. Ich habe mit einer anderen Ausländerin gesprochen, als ich ein Ticket gekauft hab und sie hat für mich am Schalter gefragt. Als die Deutschen um uns herum gemerkt haben, dass ich Deutsch spreche, waren sie nett zu mir. Wenn ich direkt auf Deutsch mit den Leuten spreche, sind sie glücklich. Sprechen ist das Erste, was man hier lernen sollte.

SANDRA: Und am Anfang, als ihr nach Borna kamt, da habt ihr ja auch im Heim gewohnt. Wie war das Leben da?

HAZAR: Es war sehr schwierig. Auch nur auf die Toilette zu müssen, oder Kleinigkeiten machen. Wir waren alle in einem Zimmer. Zu fünft, mit meinen Eltern. Wenn man sich umzieht, ist es auch schwierig im gleichen Zimmer mit allen zu sein. Es gibt keine Privatsphäre. Essen machen und Wohnen, alles in einem Zimmer. Ich muss morgens immer erst mal einen Kaffee trinken und dazu musste ich erst einmal in den Keller gehen. Ein Jahr lang waren wir dort.

FRIEDER: Warum musstet ihr da so lange wohnen?

HAZAR: Ich weiß es nicht. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir eine Wohnung brauchen, aber uns wurde immer gesagt, dass wir warten müssen. Wir sind zusammen geblieben, bis wir alle den Aufenthaltstitel hatten und sind dann zusammen gegangen. Manchmal gibt es Leute, die nur drei Monate da sind, wir waren aber ein Jahr da. Es war schwierig, aber wir haben es geschafft. Aber am Anfang waren wir zu sechst, jetzt sind wir nur noch zu fünft. Mohammed ist weg.

SANDRA: Wo ist er hingegangen?

HAZAR: Er ist nach Dänemark. Aber nicht freiwillig. Bevor wir hierher gekommen sind, war er schon mal in Dänemark. Ihm hat es dort nicht gefallen, darum ist er zurück nach Venezuela. Als wir dann nach Deutschland gegangen sind, ist er mitgekommen. Aber einmal nachts, als wir alle geschlafen haben, ist die Polizei und die Security zu uns gekommen. Wir haben die Augen geöffnet und überall im Zimmer waren Polizisten. Wir Frauen hatten auch kein Kopftuch an. Wir wussten nicht was los ist und haben nichts verstanden. Wir konnten noch nicht so gut Deutsch und haben nicht verstanden, was sie gesagt haben. Wir haben uns angezogen. Mein Bruder hat etwas übersetzt. Sie haben uns ein Papier gegeben, auf dem stand, dass Mohammed nach Dänemark abgeschoben wird. Er hatte dagegen geklagt und hat nach dem Papier dafür gesucht, aber die Polizei meinte, er muss jetzt sofort zurück nach Dänemark. Wir haben so geweint. Einer unserer Brüder war gestorben und ein anderer sollte jetzt raus, obwohl er gar keine Probleme hier gemacht hatte. Es gab Leute, die viele Probleme im Heim gemacht haben, aber nicht mein Bruder. Mohammed konnte sich nur noch kurz anziehen und mit meinem Vater reden. Wir haben so viel geweint. Danach wurde er von der Polizei mitgenommen. Wir haben dann erst die Dokumente gefunden, die er gesucht hatte, und haben versucht sie den Polizisten zu zeigen. Aber sie haben ihn trotzdem mitgenommen. Jemand aus dem Heim meinte, wenn er jetzt geht, dann darf er uns drei Jahre lang nicht besuchen. Er hatte nichts falsch gemacht. Wir waren nur unter uns und haben keine Probleme mit anderen gehabt. Der Polizist meinte nur, dass so das deutsche Gesetz sei.

Danach haben wir versucht, die Anwältin zu erreichen. Meine Schwester hat sie sehr oft angerufen, aber sie ist nicht ans Telefon gegangen. Am Morgen hat sie zurückgerufen und sich entschuldigt, dass sie den Anruf nicht gehört hat, weil sie geschlafen hat. Meine Schwester hat erklärt, dass unser Bruder mitgenommen wurde. Die Anwältin meinte, sie suche nach ihm und würde sehen, was sie machen könne. Die Polizei hat ihm den Pass abgenommen. Am Flughafen wurde mein Bruder schlimm beschimpft von Polizisten. Er war in Handschellen, hinter dem Rücken. Der Polizist hat gesagt, dass er ihn schlagen soll, wenn er ein Mann ist. Er hat ihn so schlimm beschimpft. Er musste lange in einer Zelle warten. Die Anwältin hat dann mit meinem Bruder geredet. Sie hat gesagt, er solle mit niemandem außer ihr reden. Nach einer Minute kam ein Polizist und wollte, dass mein Bruder mitkommt. Sie haben ihm gesagt, dass er zurück zu uns im Heim kommen kann und sie haben uns angerufen und gesagt, dass er zurückkommt. Als er nach einem Tag nicht zurück war, haben wir die Anwältin angerufen. Sie hat dann herausgefunden, dass Mohammed in Dresden in Abschiebehaft war. Er war da ungefähr zwei Monate. Wir durften ihn nicht zusammen besuchen, sondern immer nur eine Person. Meine Mutter und mein Vater konnten nicht alleine hin. Zu dieser Zeit ist auch meine Oma, die Mutter meines Vaters, in Syrien gestorben. Sie hat gegen Ende oft nach Mohammed gefragt. Sie hat ihn sehr geliebt und jeden Tag nach ihm gefragt. Wir konnten ihr die Wahrheit nicht sagen und haben ihr erzählt, dass er bei seinen Freunden ist. Sie ist sehr alt gewesen und hatte viele gesundheitliche Probleme. Wir hatten Angst, dass sie stirbt, wenn wir ihr die Wahrheit sagen. Sie ist dann auch gestorben. Meine Tante, die mit meiner Oma gelebt hat, wusste das etwas los war, aber wir haben ihr erst nichts gesagt. Mein Vater hat es dann meiner Tante erklärt; sie musste sehr viel weinen. Und in der Abschiebehaft gibt es eine bestimmte Zeit, in der sie kurz das Internet benutzen dürfen. Ich habe ihn gebeten, das nicht zu tun, weil es viele Nachrichten über den Tod unserer Großmutter gab. Er ist dann doch online gegangen und hat es gesehen. Er hat angerufen und so viel geweint, weil seine Oma gestorben ist. Als die Securities gesehen haben, dass er weint, sind sie zu ihm gegangen und haben gefragt, was er braucht. Er meinte, dass unser Vater krank ist und er Angst hat, dass er auch stirbt, wie unsere Oma. Unser Vater war nicht mit am Telefon, hat aber zugehört. Mein Bruder und mein Vater haben dann miteinander geredet. Er hat ihm erklärt, wie unsere Oma gestorben ist. Danach hat Mohammed die ganze Nacht geweint. Am Morgen ist ein Doktor gekommen, um mit ihm zu reden und hat ihm Medikamente angeboten. Mohammed wollte nichts, aber hat ihm von dem Tod unserer Oma erzählt. Drei Wochen später wurde er von zwei Polizisten in ein Flugzeug gebracht und nach Dänemark geflogen. Jetzt kommt er manchmal zu Besuch, aber es geht nicht so oft. Ihm gefällt es dort nicht. Er ist immer alleine und isoliert. Das war ein sehr schlechtes Jahr für uns, das erste Jahr in Deutschland. Wir waren im Heim, meine Oma ist gestorben und Mohammed wurde abgeschoben. Wir können ihm nicht dabei helfen, hierher zurückzukommen. Wir haben sehr viele Sachen versucht, damit er wieder hierher kommen kann, aber es ist sehr schwierig.

FRIEDER: Gibt es in Zukunft einen Weg, dass er wieder herkommen kann?

HAZAR: Das Problem ist, dass er dazu das Asylverfahren mit seinem venezolanischen Pass machen muss. Er war davor schon einmal in Europa registriert. Der Anwalt sagt, er muss drei Jahren warten, bis er hierherkommen kann, um hier zu leben. Das war 2019. Das sollte bedeuten, dass er dieses Jahr kommen darf, wenn er hier einen Arbeitsvertrag bekommt.

SANDRA: Schlimm, dass eine Familie getrennt wird, nur weil es solche Gesetze gibt.

HAZAR: Ja, vor allem machen wir immer alles zusammen. Ich habe gehört, dass viele andere Familien nicht immer zusammen sind. Wenn die Kinder verheiratet sind, leben sie nicht mehr zu Hause. Die sind nicht mehr so eng miteinander. Bei uns ist das anders. Meine Schwester und ich haben zum ersten Mal eine eigene Wohnung. Aber die Wohnung, wo der Rest meiner Familie wohnt, ist auf derselben Etage. Als Älteste musste ich manchmal auf meine Geschwister aufpassen. Jetzt sind meine Geschwister erwachsen, aber ich bin immer noch die Älteste. Sie sind wie Freunde für mich. Wir helfen einander. Auch mein Vater telefoniert jeden Tag mit meinem Onkel und meiner Tante. Er hat das immer so gemacht und wir machen das auch so. Dann ist es schlimm, wenn dir dein Bruder weggenommen wird. Immerhin wissen wir, dass er lebt und nicht gestorben ist. Die Tage, nachdem er mitgenommen wurde, hatte ich solche Schmerzen. Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder auch. Wir saßen nur im Zimmer und sind nicht rausgegangen. Ein Security hat uns gefragt, warum wir nicht herausgehen, es sei doch Sommer. Wir wollten aber nicht mit anderen fröhlichen Leuten sprechen. Das ging für uns nicht. Er meinte, wir sollten es versuchen und rausgehen. Für meine Familie war es gar nicht gut, nur trauernd drinnen zu sitzen. Meine Eltern sind ja auch alt und haben viele gesundheitliche Probleme.

SANDRA: Ich glaube, ich würde ausrasten, wenn mir jemand meine Schwester nehmen würde.

HAZAR: Bis heute sehe ich manchmal, wenn ich aufwache, die Polizei in meinem Zimmer. Ich habe immer noch Angst davor. Hier in Borna ist die Polizei sehr hilfsbereit. In meinem Land ist das schlimmer, viele Sachen sind sehr schlecht. Hier ist es besser. Aber wenn du aufwachst und die Polizei ist in deinem Zimmer, dann hast du einfach Angst. Ich versuche mich in diesen Momenten einfach zu beruhigen.

FRIEDER: Was wünschst du dir für deine Zukunft hier?

HAZAR: Ich würde gerne eine Ausbildung machen, damit ich eine gute Arbeit machen kann. Ich sitze ungern nur zu Hause herum. Ich will ein gutes Leben.

FRIEDER: Was für eine Ausbildung würdest du gerne machen?

HAZAR: Ich habe viel gesucht, aber ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Ich habe mich zum Beispiel für eine Ausbildung als Zahnmedizinische Fachangestellte beworben. Auch als Kauffrau und oder im Büro. Ich denke aber das geht für mich nicht, weil ich dafür B2 und einen Realschulabschluss brauche. Ich habe nur einen Hauptschulabschluss, deswegen wurde mir abgesagt.

FRIEDER: Vielleicht kannst du noch einen Realschulabschluss nachholen.

HAZAR: Ja, ich habe darüber mit meiner Freundin geredet. Sie hilft mir hier bei der Suche nach einer Ausbildung. Wenn ich jetzt keine Ausbildung bekomme, mache ich hier in Deutschland meinen Realschulabschluss und fange erst nächstes Jahr eine Ausbildung an.

SANDRA: Hattest du nicht in Syrien einen Schulabschluss gemacht?

HAZAR: Ja, aber ich habe keine Zeugnisse mehr davon. Deswegen muss ich von vorne anfangen. In Venezuela habe ich auch Abitur gemacht, aber als ich mir das hier anerkennen lassen wollte, gab es Probleme. Ich habe dort zwei Jahre in einem gemacht, viele Prüfungen in kurzer Zeit. In Deutschland gibt es das nicht, deswegen ist das Zertifikat nicht gültig.

SANDRA: Das heißt, du hast ein Abitur, aber es wird in Deutschland nicht anerkannt?

HAZAR: Ja, das müsste ich jetzt hier nochmal machen. Ich habe Angst davor, weil ich ja schon erwachsen bin. Ich habe ja auch schon viele Jahre kein Mathe mehr gemacht. Das müsste ich alles nochmal lernen. Und ich bin jetzt 30. Ich habe immer gesagt, dass ich nicht immer nur lernen, sondern auch praktisch arbeiten möchte. Ich bin jetzt erwachsen und brauche das.

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