Juan
geboren 2004, floh mit ihrer Familie 2015 aus Kurdistan und lebt seitdem in Borna
FRIEDER: Seit wann lebst du Borna?
JUAN: Seit dem 29. September 2015.
FRIEDER: Also seit ziemlich genau sieben Jahren.
SANDRA: Was sind deine ersten Erinnerungen an Borna?
JUAN: Für mich ist jeder Tag gleich. Ich erlebe nie etwas Neues. Außer, wenn ich an einem Projekt teilnehme oder wenn hier mal was los ist.
SANDRA: Erinnerst du dich noch daran, wie ihr damals mit dem Bus in Borna angekommen seid und dann im Heim gelebt habt?
JUAN: Ja, damals war ich elf Jahre alt. Ich habe auf YouTube Videos von damals gefunden, auf denen ich zu sehen bin, wie ich als Neunjährige aus dem Heim rauslaufe. Ich schaue mir diese Videos oft an und denke über die Zeit nach. Sie war geprägt von Streit, Stress und Freundschaften – alles war dabei. Die Zeit im Heim war nicht nur schlecht. Es gab aber auch Zeiten, in denen wir einen eigenen Raum oder ein eigenes Haus gebraucht hätten.
FRIEDER: Was fandest du gut in dieser Zeit?
JUAN: Ich habe jeden Tag Oma gesehen.
SANDRA: Hier will ich nochmal kurz zur Erklärung anmerken, dass meine Oma in der Kleiderkammer mitgearbeitet hat. Immer, wenn wir im Heim Projekte gemacht haben, war sie auch dabei. Die Leute haben sich mit meiner Oma angefreundet und so wurde sie von allen „Oma“ genannt .
JUAN: Wir haben fünf Jahre im Heim gewohnt, das war eine lange Zeit. Zum Schluss war es nicht einfach für uns, wir mussten sehr lange für eine Wohnung kämpfen. Ich weiß nicht genau, warum wir so lange keine Wohnung bekommen haben. Das Amt gab als Grund an, dass unsere Familie zu groß sei und dass es so eine große Wohnung für uns nicht gebe. Meine Mutter hat den ersten Antrag 2016 gestellt. Der und auch weitere wurden aber immer wieder abgelehnt. Jetzt leben wir seit fast zwei Jahren in unserer eigenen Wohnung.
SANDRA: Wie groß ist eure Familie?
JUAN: Ich habe acht Geschwister. Wir sind mit meiner Mutter nach Deutschland gekommen, aber mein Vater musste im Irak bleiben. 2002 hat er bei einer Explosion sein halbes Bein verloren. Deswegen konnte er nicht mitkommen. Wir versuchen gerade hier in Deutschland eine Aufenthaltsgenehmigung für ihn zu bekommen. Es gibt für ihn ansonsten keine andere Möglichkeit nach Deutschland zu kommen.
SANDRA: Dein Vater konnte im Irak nicht richtig arbeiten, oder?
JUAN: Ab und zu arbeitet er als Taxifahrer. Dann fährt er mit seinem eigenen Auto Leute herum. Das kann er aber nur machen, solange das mit seinem Bein geht.
SANDRA: Das heißt du hast deinen Vater über sieben Jahre nicht gesehen. Wie haltet ihr Kontakt?
JUAN: Wir haben selten Kontakt. Ich habe kaum Zeit mit ihm zu telefonieren. Ich komme abends vom Kolleg nach Hause, esse etwas, gehe duschen und muss meine Hausaufgaben machen. Dann ist der Tag schon zu Ende. Ich komme nicht dazu, mit ihm zu reden. Als ich nach Deutschland gekommen bin, konnte ich drei Jahre lang nicht mit meinem Vater telefonieren, weil er kein Handy hatte. Während dieser Zeit habe ich überhaupt nichts von ihm gehört.
SANDRA: Wie ist es für dich, ohne Vater aufzuwachsen?
JUAN: Ich merke, dass uns Geschwistern ein Vater fehlt, der uns Dinge beibringt, die einem nur ein Vater beibringen kann. Besonders meinem großen Bruder und mir. Wenn ich mit Männern rede, habe ich nicht das Gefühl mit einer Person zu reden. Ich habe das Gefühl, direkt zu zumachen. Mit Frauen kann ich mich sehr gut unterhalten. Wäre mein Vater wie ein Kumpel immer für mich da, würde es mir leichter fallen Kontakt zu Männern aufzubauen. Solange mein Vater nicht hier ist, fehlt ein Stück von mir.
SANDRA: Hast du das Gefühl, dass er dich trotzdem erzieht, wenn du mit ihm Kontakt hast?
JUAN: Nein, eigentlich gar nicht. Das geht nicht. Er sagt nur “Hallo” und “Hey, wie geht‘s?”. Das war alles.
SANDRA: Jetzt ist eure Mutter hier in Deutschland allein mit dir und deinen Geschwistern. Wie ist das für euch? Wie organisiert ihr euch als Familie? Eure Mutter kann ja nicht überall gleichzeitig sein.
JUAN: Während unserer ersten zwei Jahre in Deutschland hat meine Tante meine Mutter überall unterstützt, wo sie nur konnte. In diesen zwei Jahren bin auch ich älter und verantwortungsbewusster und habe meiner Mutter immer mehr geholfen.
SANDRA: Wie sieht dein Alltag in Borna aus?
JUAN: Eigentlich ist es nicht viel. Ich stehe um 5 Uhr auf, mache kurz Ordnung, packe meine Sachen und gucke mir nochmal meine Hausaufgaben an. Meine Mutter und ich machen Essen und dann geht der Tag los. Bis 5:30 Uhr bin ich fertig. Ich rede mit meiner Mutter darüber, was an dem Tag noch passieren wird und was noch gemacht werden muss. Um 5:45 Uhr steige ich in den Bus ein und bin um 5:51 Uhr in Borna am Bahnhof. Um 6:02 Uhr fährt der Zug los nach Böhlen. Im Zug höre ich Musik und gucke mir Vokabeln an. Um 6:29 Uhr steige ich in Böhlen um in einen anderen Zug, der nach Leipzig fährt. Wenn ich da angekommen bin, laufe ich 15 Minuten bis zur Schule. Um 7:30 Uhr beginnt dann der Unterricht.
SANDRA: Wann machst du deine Hausaufgaben?
JUAN: Die mache ich abends, wenn ich nach Hause komme. Aber heute muss ich keine machen, die habe ich gestern Abend schon gemacht. Am Dienstag schreiben wir eine Klassenarbeit in Englisch. Dafür muss ich am Wochenende noch etwas vorbereiten.
FRIEDER: Wann bist du nach der Schule wieder zuhause in Borna?
JUAN: Das ist unterschiedlich. Die sechste Stunde endet um 12:45 Uhr, die achte um 14:45 Uhr und die zehnte um 16:30 Uhr. Am Montag habe ich zehn Stunden, dafür aber die ersten beiden frei.
FRIEDER: Auf was für eine Schule gehst du in Leipzig?
JUAN: Auf ein Gymnasium, ich mache Abitur.
FRIEDER: Was machst du nach der Schule?
JUAN: Manchmal wird es kompliziert, wenn ich die Sachen, die ich geplant habe, nicht schaffe. Heute wäre ich eigentlich um 15:30 Uhr in Borna angekommen. Ich wollte kurz nach Hause gehen und dann direkt für unser Gespräch hierherkommen. Das hat leider nicht geklappt. Es läuft nicht immer alles so, wie ich es will. Oft hänge ich nach der Schule auch einfach nur rum und gehe meine Notizzettel durch, auf denen ich notiert habe, was alles noch ansteht. Ich arbeite meine Aufgaben ab.
FRIEDER: Was sind das für To-do-Listen?
JUAN: Ich schreibe sie für mich. Ich brauche diese Notizen, damit ich nicht vergesse, was ich an dem Tag noch vorhabe. Wenn ich nach Hause kommen und mich direkt hinlegen würde, würde ich direkt alles vergessen.
SANDRA: Sind das Dinge, die nur dich angehen oder sind das Dinge, die du für die ganze Familie organisieren musst?
JUAN: Das kommt drauf an, für wen etwas gemacht werden muss. Auf meiner aktuellen To-do-Liste steht zum Beispiel, dass ich noch den Bafög-Antrag stellen muss. Die durchgestrichenen Sachen habe ich alle schon erledigt. Ich habe mich im Hort nach Plätzen für die Zwillinge erkundigt und in der Volkshochschule gefragt, ob meine Mutter dort Deutschunterricht nehmen kann. Sie will seit vielen Jahren wieder einen Deutschkurs machen, aber es gibt dort derzeit leider keine Lehrer. Außerdem steht hier noch „Annika anrufen“ und „60€“ drauf, ich muss mich also noch bei der Beratungsstelle melden. Ich muss auch noch zum Sozialamt gehen und dort den Leistungsbescheid für den Bafög-Antrag abgeben, deshalb steht hier „Brauhausstraße 5 Bescheid“.
SANDRA: Als ich 18 Jahre alt war, wusste ich noch nicht mal, was ein Bafög-Antrag ist.
JUAN: Ich wusste das auch nicht. Das Sozialamt hat mir gesagt, dass ich das machen muss, wenn ich diese Art von Schule besuche, auf die ich gerade gehe. Annika von der Beratungsstelle hat mir dann ein zwanzigseitiges Dokument gegeben, das wir gemeinsam aufgefüllt und eingereicht haben.
SANDRA: Bei diesen großen Anträgen holst du dir noch Hilfe bei Beratungsstellen, aber viele Sachen machst du mittlerweile allein. Was für Anträge stellst du?
JUAN: Ich stelle zum Beispiel Nachhilfeanträge. Die fülle ich selbstständig aus.
FRIEDER: Machst du das für alle deine Geschwister?
JUAN: Eigentlich nicht. Ich fülle sie so aus, wie es mir beim ersten Malin der Beratungsstelle gezeigt worden ist und dann macht meine Schwester den Rest. Ich muss mich auch noch um andere Sachen kümmern und kann nicht fünf Anträge, für alle meine Geschwister, stellen. Meine Schwester unterstützt mich bei vielen Sachen. Ich habe eine Familie, die mich unterstützt.
SANDRA: Es klingt so, als ob du alle organisatorischen Aufgaben zu Hause übernimmst. Habt ihr eine klare Aufgabenverteilung unter den Geschwistern? Wer kauft beispielsweise ein?
JUAN: Zurzeit machen meine Schwester und meine Mutter den Einkauf. Meine Mutter zeigt auch meiner anderen Schwester, wie man mit Geld umgeht. Meine Geschwister, meine Mutter und ich teilen uns auch auf, wer zu welchem Elternabend geht. Meine Tante Muna und meine große Schwester machen den Haushalt. Sie putzen, waschen Wäsche und kochen. Muna holt auch meine kleinen Geschwister von der Schule ab. Wenn gutes Wetter ist, gehen sie zu Fuß zur Schule. Wenn es schneit, nehmen sie den Bus. Meine jüngsten Geschwister, die Zwillinge, sind in Deutschland geboren.
FRIEDER: War deine Mutter schwanger, als sie nach Deutschland gekommen ist?
JUAN: Ja. Ich war damals selbst noch sehr klein, aber ich erinnere mich, wie meine Mutter im Irak gesagt hat, dass sie schwanger sei. Sie meinte aber, dass sie abgetrieben habe. Als wir auf dem Weg nach Deutschland waren, hat meine Mutter meiner Tante gesagt, dass sie noch schwanger mit den Zwillingen sei. Sie wollte abtreiben, weil sie meinte, es seien schon genug Kinder. Aber mein Vater wollte das nicht. Er hat der Abtreibung nicht zugestimmt. Es ist selten, dass Familien so viele Kinder haben. Ich finde es schön, wenn man viele Geschwister hat. Man ist nie allein an irgendetwas schuld und man muss nicht immer alles allein machen. Man braucht keine Freunde, wenn man so viele Geschwister hat.
SANDRA: Ich kann mir vorstellen, dass die Leute manchmal schockiert reagieren, wenn du sagst, wie viele Geschwister du hast. Wie fühlt sich das für dich an?
JUAN: Ich habe dabei kein gutes Gefühl. Es gibt immer Leute, die etwas dagegen haben. Für mich ist das aber kein Problem. Die können sagen, was sie wollen. Ich finde meine Familie toll. Nur hier im Alltag in Borna merke ich, dass es mir manchmal schwerfällt. Ich bin immer gemeinsam mit meinen Geschwistern in der Stadt unterwegs. Wir hören, dass die Leute sagen, dass wir so eine große Familie sind. Das gibt mir das Gefühl, dass wir zu viele sind.
FRIEDER: Wie ist eure jetzige Wohnsituation?
JUAN: Meine Tante und meine Schwester wohnen zusammen in einer Wohnung und der Rest der Familie wohnt in einer anderen Wohnung, in drei Schlafzimmern. Wir haben alle unser eigenes Bett, aber schlafen in einem Zimmer.
FRIEDER: Also schlaft ihr zu siebt in einem Zimmer?
JUAN: Wir haben zwei Wohnungen. Die eine Küche haben wir nicht mehr gebraucht, in die ist mein Bruder eingezogen. Meine Mutter, die Zwillinge und ich schlafen in einem Zimmer. Die anderen Geschwister schlafen in dem anderen.
SANDRA: Deine Mutter hat ja 2016 schon den ersten Antrag auf eine Wohnung gestellt. Ihr habt erst 2020 die Wohnung bekommen. Das war ein langer Kampf. Ich hatte immer das Gefühl, dass der eigentliche Grund nicht war, dass es keine Wohnung gab, sondern dass sie euch kontrollieren wollten. Weil sie dachten, dass ihr eine große Familie seid und dass deine Mutter das nicht allein schafft.
JUAN: Ja genau. Deren Angst war, dass alles durcheinander sein würde und die Wohnung katastrophal aussehen würde.
SANDRA: Sie haben auch gesagt, dass sie euch keine Wohnung geben, weil sie euch kontrollieren wollen. Ihr seid aber eine top organisierte Familie. Eure Mutter hat das alles gut im Griff.
FRIEDER: Es ja auch absurd, pauschal zu sagen, dass ihr das nicht hinkriegt und ihr kontrolliert werden müsst, nur weil ihr elf Leute seid. Das macht mich wütend.
JUAN: Sie sagten, dass wir eine große Familie seien und wir deswegen keine Wohnung bekommen.
SANDRA: Ich glaube, das war ein Grund. Aber es gab auch viele Vorurteile. Ich glaube, es gibt viele Vorurteile gegen große Familien.
JUAN: Ich bin sehr froh, dass das mit der Wohnung geklappt hat. Letztens hat ein Junge aus meiner Klasse erzählt, dass er zehn Geschwister hat. Alle haben ihn angeschaut und gelacht, auch der Lehrer. Ich fand das richtig schlimm. Es ist schön, Geschwister zu haben. Darüber sollte keiner lachen. Ich war sehr enttäuscht davon, dass die ganze Klasse gelacht hat.
FRIEDER: Woher kommen deine Mitschüler und Mitschülerinnen? Aus ganz Leipzig und Umgebung?
JUAN: Ja genau. Und ich bin die einzige aus Borna. Morgens in der Bahn treffe ich immer ein Mädchen, das in Böhlen zur Schule geht. Ich versuche mich aber immer allein hinzusetzen, getrennt von anderen, damit ich nicht vergesse, was ich noch machen muss. Ich brauche die Zeit im Zug. Ich brauche jede Minute.
SANDRA: Das klingt nach einem echt harten Programm
JUAN: Vor zwei Tagen habe ich nach sieben Jahren endlich einen Aufenthaltstitel bekommen. Ich bin dann zusammen mit meiner Mutter zur Ausländerbehörde in Grimma gegangen, um das Dokument dort abzuholen. Wir waren überglücklich. Die Leute, die dort arbeiten, haben aber sehr nüchtern reagiert und uns nur gefragt, was wir wollen. Ich finde, sie geben den Menschen nicht genug Aufmerksamkeit. Eigentlich habe ich den Antrag gemeinsam mit meiner großen Schwester gestellt, aber sie hat noch keine Antwort bekommen. Meine Mutter, meine Tante und meine anderen Geschwister haben leider noch keinen Aufenthaltstitel. Sie sind immer noch nur geduldet. Meine Familie versucht ihr Bestes in Deutschland zu geben. Aber Deutschland zeigt ihnen immer wieder das Gegenteil. Sie versuchen Deutsch zu lernen, aber die Anträge für einen Sprachkursplatz werden seit sieben Jahren immer wieder abgelehnt. Vor fünf Monaten hätte es endlich klappen können. Aber im Moment gibt es keine Sprachlehrer in Borna.
SANDRA: Die Zwillinge wurden hier geboren und wurden hier mit einer Zuckertüte in der Hand eingeschult. Und trotzdem sind sie nur geduldet und haben einen unsicheren Status.
FRIEDER: Was genau bedeutet es eigentlich, geduldet zu sein?
JUAN: Die Duldung gilt immer nur für sechs Monate und dann muss man eine neue beantragen. Es dauert etwa zwei Wochen, bis der Antrag bewilligt wird. Man muss jedes Mal wieder das Duldungsdokument ausfüllen und einreichen. Dann geben sie einem wieder ein Papier und man ist für weitere sechs Monate geduldet. Mit der Duldung kann man nur innerhalb Deutschlands reisen, nicht ins Ausland.
SANDRA: Wie viele Tage im Jahr bist du bei der Ausländerbehörde?
JUAN: Das kommt darauf an, was ich zu tun habe. Ich bin wirklich oft wegen Kleinigkeiten beim Sozialamt. Dort muss man auch hin, um die Duldung zu beantragen.
SANDRA: Weißt du, warum nur du und deine Schwester den Aufenthaltstitel bekommen habt?
JUAN: Ich glaube, weil wir die ältesten Kinder sind. Aber genau weiß ich es auch nicht.
SANDRA: Es gibt einen Aufenthaltstitel für Jugendliche bis 21 Jahre, den man ab vierzehn Jahren bekommen kann. Bedingung dafür ist, dass man nichts angestellt hat, sich gut integriert hat und regelmäßig in die Schule geht. Diesen Aufenthaltstitel haben Juan und ihre jüngere Schwester jetzt bekommen. Wir haben das beantragt, als ihr 14 Jahre alt ward. Du bist jetzt Achtzehn. Das heißt, es hat vier Jahre gedauert.
JUAN: Genau. Wir haben auf den Moment gewartet, wo wir die Aufenthaltstitel beantragen konnten.
SANDRA: Man muss schon mindestens vier Jahre in Deutschland sein. Als es so weit war, haben wir die Aufenthaltstitel für euch beantragt. Dafür brauchtet ihr einen irakischen Reisepass. Es ist nicht so einfach, den in der Irakischen Botschaft zu bekommen. Ihr musstet dafür sehr oft nach Berlin fahren.
JUAN: Ja, mehr als sechs Mal. Wir waren wirklich oft dort. Ich musste sogar allein dahin, weil etwas schief gelaufen ist und ein Zettel nachgereicht werden musste. Wir haben damals Urkunden auf Arabisch eingereicht. Die mussten ins Deutsche übersetzt werden. Dafür musste mein Vater im Irak die Urkunde auf Deutsch übersetzen lassen.
SANDRA: Ich weiß, dass die Beantragung wirklich sehr kompliziert ist. Ich versuche das auch manchmal Deutschen zu erklären, die sich auf dem Gebiet ein bisschen auskennen. Selbst die verstehen es oft nicht. Wie war das für dich? Du warst erst 14 Jahre alt. Wie konntest du das alles durchblicken?
JUAN: Das ging nicht automatisch. Erstmal musste mir erklärt werden, was das alles ist und worum es geht. Ich kenne zwar die verschiedenen Ämter, was genau ihre Aufgaben sind, weiß ich aber auch nicht. Als ich das erste Mal Bafög beantragt habe, wusste ich auch nicht wie das funktioniert. Ich habe immer wieder mit neuen Anträgen zu tun, muss neue Formulare ausfüllen und neue Dinge beachten. Aber man lernt dazu. Und je öfter man auf den Ämtern ist, je länger man sich mit all dem beschäftigt, desto mehr bekommt man mit und versteht, wie das funktioniert.
FRIEDER: Respekt, dass du das alles kannst und machst.
JUAN: Für Migranten sollte ein sicherer Aufenthaltsstatus einfacher zugänglich gemacht werden. Deutsche werden hier geboren und bekommen direkt ihre Geburtsurkunde. Dafür müssen sie nicht aufs Amt gehen.
SANDRA: Was denkst du, wie viele Jahre es noch dauert, bis alle aus deiner Familie einen Aufenthaltstitel haben?
JUAN: Das wird noch lange dauern. Bestimmt doppelt so lange, wie wir schon hier leben. Bei den Zwillingen wird es einfacher sein, weil sie hier geboren sind. Bei den anderen wird es mindestens vier Jahre dauern. Meine Geschwister sind ja noch nicht mal vierzehn Jahre alt, deswegen dauert es noch viel länger. Ich schätze zehn Jahre.
SANDRA: Wo bist du im Irak geboren und aufgewachsen? War das eine Stadt wie Borna? Was für Erinnerungen hast du an die ersten zehn Jahre deines Lebens dort?
JUAN: Wir haben im Nordirak, also in Südkurdistan gelebt. Ich habe aber nicht mehr viele Erinnerungen an diese Zeit. Ich kann mich nur an kleine Sachen erinnern, zum Beispiel wenn ich Mist gebaut habe. Ich kann mich an die Straßen erinnern. Die Stadt war in etwa so groß wie Borna, vielleicht auch etwas größer.
FRIEDER: Wie heißt die Stadt?
JUAN: Ich kann den Namen nicht richtig aussprechen. Bajet sagt man. Mein Vater lebt immer noch dort.
SANDRA: Bist du dort zur Schule gegangen?
JUAN: Ja, bis zur fünften Klasse. Bis zu dem Tag, an dem ich mein Zeugnis bekommen habe. Daran kann ich mich noch erinnern. Ich habe mich gefreut, weil ich gute Noten hatte. Eine Mitschülerin von mir war die Klassenbeste. Sie hatte niemals eine Zwei, immer nur Einsen. An sie kann ich mich noch gut erinnern. Ich glaube, sie lebt jetzt auch in Deutschland, weil das System im Irak wirklich nicht das Beste ist.
SANDRA: War das eine Stadt, in der nur Jesiden gewohnt haben? Wie habt ihr eure Religion gelebt?
JUAN: Ja, in unserer Stadt haben nur Jesiden gelebt. Damals sagten sie, dass es in Syrien auch Krieg gebe. Deswegen sind auch Muslime in unsere Gebiete gezogen. Jesiden gibt es überall auf der Welt, sie leben nicht nur in einer Region. Es gibt auch Jesiden in Armenien oder Deutschland. Nur muss man sie hier etwas länger suchen.
SANDRA: Kannst du dich an eine jesidische Tradition erinnern? Eine Tradition, der ihr hier in Deutschland vielleicht auch noch nachgeht?
JUAN: Es ist schwer, in Deutschland jesidische Traditionen auszuleben. Als wir noch im Irak lebten, gab es einen Feiertag, das Neujahrsfest Newroz. Nach diesem Fest ist mein Bruder benannt. Wir haben Newroz auch in der Schule gefeiert. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Jeder sollte drei Euro für eine Torte bezahlen. Es gab eine riesige Torte. Ich habe gestaunt, als ich sie gesehen habe.
FRIEDER: Wie ist es für dich als Jesidin in Deutschland zu leben?
JUAN: Ich denke, es wäre einfacher in Deutschland christlich zu leben, weil es hier kaum Jesiden gibt.
FRIEDER: Wie lebt ihr eure Religion hier aus?
JUAN: Eigentlich gar nicht. 2017 oder 2018 wurde in Leipzig das Zuckerfest gefeiert. Das gibt es im Dezember und im April. Das Zuckerfest im April ist das wichtigere Fest, das ist das bessere der beiden. Wir Jesiden feiern unsere Feste zu anderen Zeiten als die Muslime, wir sind eine andere Religion. Als Jesidin in Deutschland zu leben, bedeutet, nicht in deinem eigenen System, nicht nach deinen eigenen Bräuchen, zu leben. Du musst im deutschen System leben. Du gewöhnst dich an die deutschen Traditionen. Zum Zuckerfest klopfen wir eigentlich, wie hier zu Halloween, an Haustüren und sammeln Süßigkeiten. Diese Tradition gibt es hier aber nicht, weil es hier nicht so viele Jesiden gibt.
FRIEDER: Das hat sich bei uns auch verändert. Als ich ein Kind war, sind wir im Februar zu Fasching um die Häuser gezogen und haben an Türen geklopft. Dann ist es durch den Halloween-Brauch aus den USA auch hier schick geworden, das Ende Oktober zu machen. Traditionen verändern sich. Vielleicht müsst ihr Jesiden das mit vielen Leuten im April machen.
JUAN: Nein, das möchte ich nicht. Ich lebe mit der deutschen Version.
SANDRA: Was genau meinst du damit? Du lebst hier eine deutsche Version davon jesidisch zu sein?
JUAN: Ich meine damit, dass ich mich an deutsche Traditionen halte. Damit meine ich nicht unsere Gebete, die machen wir weiterhin. Wir glauben an unsere Religion, aber wir wollen an den deutschen Feiertagen mit dabei sein können. An Weihnachten sind wir auch dabei, obwohl wir Jesiden sind. Bei uns gibt es das auch, aber nicht im Dezember.
SANDRA: Hast du das Gefühl, dass es deiner Mutter wichtig ist, dass sie euch etwas über eure Religion erzählt?
JUAN: Sie möchte, dass wir mit Jesiden leben und dass wir wissen, wie man sich auf einer jesidischen Hochzeit benimmt und was es für Traditionen gibt. Ich kann noch sehr viel über unsere Bräuche lernen, weil ich sie noch nicht so gut kenne. Im Alltag habe ich eigentlich nur Kontakt mit Deutschen und Muslimen. Es gibt hier nicht viele Jesiden. Wir kennen hier nur eine andere jesidische Familie. Die sehen wir aber nur ganz selten. Meine Mutter hat mehr Kontakt zu ihnen, wir Kinder aber nicht.
FRIEDER: Gibt in Leipzig eine jesidische Gemeinde?
JUAN: Das weiß ich nicht. Meine Mutter kennt Jesiden in Nordrhein-Westfalen. Ich aber nicht.
SANDRA: Im Westen gibt es Städte, wo mehr Jesiden leben.
JUAN: Im Irak gibt es eine jesidische Kirche. Ich glaube, der Ort heißt Lalisch. Dort war ich nur einmal, bevor wir nach Deutschland gekommen sind. Ich war sechs oder sieben Jahre alt. Meine Mutter hat an dem Tag dafür gebetet, dass wir gut nach Deutschland kommen.
SANDRA: Ich war auch mal dort als ein Fest gefeiert wurde. Es waren sehr viele Menschen da. Als Deutsche sind wir dort extrem aufgefallen.
JUAN: Das ist genauso, wie wenn ich jetzt hier auffalle.
SANDRA: Was sagst du zu Leuten, die dich fragen, wo dein Zuhause ist?
JUAN: Ich sage ihnen, dass ich zwischen beiden Ländern stehe. Ich komme aus dem Irak, aber ich lebe in Deutschland.
SANDRA: Wo ist dein Herz?
JUAN: An beiden Orten. In Deutschland habe ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht und im Irak meine Kindheit. Es wäre schön, wieder mal in den Irak zu reisen, aber dort leben will ich nicht nochmal.
SANDRA: Lebst du gerne in Borna? Oder würdest du lieber an einem anderen Ort wohnen?
JUAN: Ich würde gerne an einem Ort leben, wo mehr Straßenbahnen fahren. Der Bus kommt hier oft nicht oder hat Verspätung. Es fährt nur einmal in der Stunde ein Bus. Für mich zählt jede Minute. Ich möchte an einem Ort wohnen, wo nicht so viel los ist, aber wo es Straßenbahnen gibt. Leipzig wäre nicht so meins, da ist es am Bahnhof immer so voll.
SANDRA: Wenn ich Bürgermeisterin von Borna wäre, würde ich nur für dich eine Straßenbahn bauen. Was würdest du noch gerne in Borna ändern?
JUAN: Ich fände es schön, wenn es in Borna mehr zu sehen gäbe, wenn hier mehr los wäre. Borna ist eher wie ein Dorf. Für mich ist es zu klein. Ich mag es, aber es sollte größer werden und wachsen. Dann würden mehr Leute hier wohnen wollen. Ich lebe hier seit acht Jahren und fühle mich wie eine Bürgerin von Borna.
FRIEDER: Gibt es etwas, was dir in Borna gefällt?
JUAN: Die Ruhe. Ich weiß, wo was ist und kenne mich aus. Ich fühle mich hier wie zu Hause. Wir waren letztens in Grimma und sind dort zur Ausländerbehörde gegangen. Da wird nur kurz und knapp behandelt, was du willst und wohin du musst. Hier in Borna nehmen sie sich die Zeit dir alles zu erklären, wenn du etwas nicht verstehst.
FRIEDER: Was ist dein Plan nach dem Abitur?
JUAN: Das steht noch nicht fest, aber ich kann mir gut vorstellen im Büro zu arbeiten. Vielleicht als Immobilienkauffrau. Die Wohnsituation von Menschen ist eine Sache, die mir wirklich am Herzen liegt. Als Immobilienkauffrau könnte ich den Leuten Wohnungen zeigen und ihnen ermöglichen in einem Haus zu leben.
SANDRA: Das wäre ja perfekt. Dann würde Borna wachsen, wenn deine Firma Häuser baut.
JUAN: Ich versuche immer mein Bestes zu geben.
SANDRA: Du gibst schon seit sieben Jahren dein Bestes.
JUAN: Dann will ich noch mehr mein Bestes geben.
SANDRA: Hast du einen Lieblingsort in Borna?
JUAN: Eigentlich bin ich überall gerne. Ich bin gerne mit anderen Leuten zusammen im Zentrum. An Weihnachten oder zum Oktoberfest ist das ein schöner Ort. Wenn ich allein bin, gehe ich gerne zum Breiten Teich.
FRIEDER: Was wünschst du dir für die Zukunft?
JUAN: Ich habe viele Wünsche. Ich habe Ziele. Ich will meine Mutter glücklich machen. So, wie sie mich glücklich macht. Borna hält sie gerade klein. Ich will, dass sie einen Aufenthaltstitel bekommt. Ich will meinen Führerschein machen, für meine Mutter. Seit sieben Jahren tragen wir immer alles zu Fuß nach Hause.
SANDRA: Hast du noch mehr Wünsche?
JUAN: Ich wünsche mir, dass aus meinen Geschwistern etwas wird, dass ihnen viele Möglichkeiten offenstehen. Und für meine Schwester, die Schwierigkeiten beim Lernen hat, wünsche ich mir, dass sie ihren Weg findet. Ich wünsche mir ein tolles Leben in Deutschland, in einem Haus mit Garten, in dem meine Mutter Gemüse anbauen kann.