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Marcus Thoma

geboren 1983, arbeitet in der Lebenshilfe-Werkstatt

Das Gespräch führten wir am 07. April 2022 mit Marcus und seiner Mutter Heike.

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MARCUS: Die ersten fünf Jahre bin ich in Kitzscher bei meiner Oma aufgewachsen, weil da meine Mutti noch studiert hat. Aber schöner fand ich es später in Haubitz.

HEIKE: Es ist ja wirklich ein Dörfchen. Ich glaube wir sind 77 Einwohner*innen.

MARCUS: Das Dorfleben war schön. Ich habe da viele Freunde gehabt. Gab schon viele schöne Sachen. War eine schöne Zeit.

HEIKE: Die Kinder waren immer zusammen, das waren vielleicht so zwölf bis vierzehn Mann. Kinder allen Alters, die waren immer zusammen unterwegs. Sie haben auch Blödsinn gemacht. Also aus dem Dorf raus, das wussten die alle, durften sie nicht. Das Dorf war groß genug und da haben sie sich dann meistens unter der Eiche – das ist so der Sammelplatz, Dorfanger – dort haben sie sich getroffen. Wir haben nie Angst gehabt, wenn er mit dem Fahrrad unterwegs war, dass er sich irgendwo verfährt. Er hat einen Orientierungssinn, das ist irre.

MARCUS: Dabei haben die Ärzte zu mir gesagt, ich könnte nie Fahrrad fahren.

HEIKE: Im Grunde genommen geht seine Behinderung auf eine frühkindliche Hirnschädigung zurück. Sauerstoffmangel unter der Geburt. Wir sind dann natürlich in den ersten Jahren von Arzt zu Arzt. Er hat bis heute motorische Schwierigkeiten. Damals hat der Professor in Leipzig gesagt, in der Neurochirurgie: „Der Marcus, der wird nie Fahrradfahren lernen oder so was. Also mit Gerätschaften, das wird gar nicht gehen.“ Aber als er dann so etwa sechs war … erst ist er immer mit einem Liliput gefahren, dieses Gefährt aus DDR-Zeiten auf drei Rädern. Da ist er uns mehrmals ausgebüchst. Von Haubitz wollte er unbedingt nach Kitzscher und dann mal in die Gegenrichtung nach Kahnsdorf seine Tante besuchen. Und irgendwann hat er dann das Fahrradfahren gelernt, anfangs mit Stützrädern und dann ohne. Und seitdem … also das Fahrrad darf ich ihm nicht wegnehmen. Das ist so das Fortbewegungsmittel, womit er selbstständig überall hin kommt. Das ist schon dein Ein und Alles.

MARCUS: Später war das dann nicht mehr so schön in Haubitz, weil mir dann die Freunde gefehlt haben. Mein Bruder ist dann auch weggezogen. Der wohnt jetzt in Würzburg.
2001 hab ich in der Werkstatt angefangen, bei der Lebenshilfe. 21 Jahre sind es jetzt. Wir machen Schlösser für Türen. Wenn es mal passt, kann ich die Werkstatt euch auch mal zeigen. Vorher war ich bei Sonnländer im Lager draußen, da habe ich Säfte, Saftkisten gestapelt. Von der Großkelterei kommen die her. Jetzt mache ich Schlösser, weil ich darf jetzt nicht mehr so schwer tragen. Ich habe es mit dem Herz.

HEIKE: Also, als er krank wurde, da haben sie das zugeteilt.

MARCUS: Wir machen die Blenden, diese Schließblenden für die Türen. Also die Schlösser selber nicht. Aber in einem anderen Bereich machen wir auch Schlösser. Hinten in der alten Werkstatt. Die setzen die Schlösser in ihren Einzelteilen zusammen, Deckel drauf, zu genietet und dann werden sie im Grunde genommen in Wohnungstüren eingebaut und dann fehlen bloß noch die Zylinder. Und wir machen aber die Schließbleche.
Ein anderer Bereich der Werkstatt macht Teile für CareLiv aus Geithain, medizinische Geräte für Krankenhäuser. Andere müssen Bleche stanzen für Kühlschränke. Als da neulich einige Urlaub hatten, musste ich da auch mal mit ran. Und Kirschkernkissen machen wir auch. Die Kerne werden in großen Säcken geliefert. Dann gibt es noch eine Küche. Früher wurde da für alle gekocht. Jetzt bekommen wir es aus Geithain geliefert. Von einem Caterer. Früher gab’s auch noch Kerzen und Seifen. Aber jetzt nicht mehr. Das wurde verkauft und zurückgeschickt nach Holland. Die Wäscherei gibt’s jetzt in der neuen Werkstatt. Dann noch die Näherei und noch Landschaftspflege. Die fahren immer raus mit den Leuten, Rasenmähen und so. Und in Zedtlitz machen sie Autoaufbereitung. Sie machen Autos innen und außen tipptopp sauber.
Ich wohne in der Wettinstraße. Zwei Mitbewohner sind jetzt ausgezogen und da sind wir jetzt bloß noch 13. Wir machen manchmal viel zusammen. Wir spielen auch viel. Mensch ärger dich nicht. Aber auch andere Spiele.

HEIKE: Marcus war 2003 mit einer der ersten, die hier eingezogen sind. Ganz viele sind mittlerweile schon ausgezogen, weggezogen, haben eine eigene Wohnung teilweise. Aber ich denke mal, du fühlst dich hier wohl. Wir hatten damals ein bisschen Probleme. Der Marcus wollte gerne hier her. Er wusste, dass so eine Außenwohngruppe aufgemacht wird und wollte gerne hier hin. Er wollte natürlich unter seinesgleichen. Bei uns auf dem Dorf war er alleine. Wie er gesagt hat, die Freunde sind alle weggezogen. Dann haben wir das beantragt und wie das so ist, diese ganzen Stellen, der Kommunale Sozialverband Sachsen und so, die haben das alles geprüft. Und dann hieß es: „Na ja, Sie haben doch ein Haus und Sie sind noch jung und da kann doch der Marcus bei Ihnen bleiben.“ Also das erste Mal abgeschmettert. Und dann war aber hier Tag der offenen Tür, da durften wir uns das ganze Gebäude angucken und da hat der Marcus immer gesagt: „Hier würde ich auch gerne hin.“

MARCUS: Das war zur Eröffnung.

HEIKE: Ja, zur Eröffnung. Und wie es der Teufel wollte, stand neben mir eine Frau und fragte: „Und warum kommt der Marcus nicht hierher?“ Und da habe ich ihr die Geschichte erzählt. Ich wusste nicht, dass sie von der Rundschau war. Sie hat das dann in der Zeitung abgedruckt und Sie sollten mal sehen, wie schnell wir den Platz hatten. Ganz schnell. Da war noch ein Bild mit drin. Und innerhalb von zwei Tagen hatte ich einen Anruf vom KSV: “Der Platz ist genehmigt.“ Also manchmal, manchmal ist es wirklich so, dass man solche Zufälle braucht.

MARCUS: Ja, und am 01.09.2003 bin ich dann hier eingezogen.

SANDRA: Wie sieht denn dein Alltag aus?

MARCUS: Unser Tag fängt an mit Zimmer reinigen, also sauber machen, Wäsche waschen. Ich bin mittwochs dran. Mein Zimmer­genosse ist montags dran. Wir haben verschiedene Waschtage. Dann haben wir Küchen­dienst, Treppen­dienst und Einkaufs­dienst. Am Wochen­ende kochen wir selber, also die Betreuer, und in der Woche kriegen wir das von der Werkstatt geliefert. Drei Betreuer haben wir.

HEIKE: Das könnte ich als Mutti, wenn ich ihn zu Hause hätte, gar nicht machen. Wenn man arbeiten geht. Aber für die Betreuer ist das die Arbeit. Und die lassen sich da auch immer wieder was einfallen. Auch für Geburtstage und so. Die sind schon sehr, sehr rührig, muss ich wirklich sagen.

MARCUS: Ja, jetzt können wir ja nicht mehr in den Urlaub fahren, weil natürlich Corona ist. Aber davor sind wir auch mal in den Urlaub gefahren. Viele Male, wir sind auch geflogen. In Italien waren wir und dann Menorca, in der Türkei, Bulgarien. Und dann haben wir in Deutschland Reisen gemacht. In Oybin und im Zittauer Gebirge waren wir. Und in der Lüneburger Heide.
In Borna fehlt mir ein Freibad. Das gibt es ja nicht mehr. Leider. Da haben wir jetzt bloß noch das schöne Jahnbad.

HEIKE: Früher sind sie los gezogen und haben die Freunde getroffen, und irgendwann kamen sie zurück. Das war schon was anderes.

MARCUS: Jetzt gehen wir manchmal als Gruppe an die Bagger­seen und so. Und dann mit den scheiß Fußwegen hier. Wenn ältere Leute da lang laufen und dann hinfliegen, umfallen, das ist auch nichts Schönes. Sie wollten ihn ja neu machen, wenn der Bahnhof gemacht worden ist. Das haben sie bis jetzt noch nicht gemacht.
Und dann haben sie die alten Gebäude abgerissen. Das eine Gebäude hätten sie noch stehenlassen können. Aber das haben die alles weggemacht. Ich finde aber auch gut, dass sie hier das Zwiebelhaus neu machen. Da sind Figuren außen dran. Die Zwiebelfrauen, die Carabinieri und die Bergmänner.

HEIKE: Und jetzt geht der Radweg unten durch, das ist ja ganz wichtig für dich. Der dann nach Haubitz geht.

MARCUS: Die Ober­bürger­meisterin sollte eine Auszeichnung kriegen. Weil sie selber viele Menschen von der ukrainischen Grenze geholt hat, die aus der Partner­stadt Irpin kamen. Zwei Frauen und zwei Kinder sind auch hier bei uns im betreuten Bereich.

HEIKE: Er nutzt auch immer die Gelegenheit, wenn er die Frau Luedtke erwischt, mal mit ihr zu reden.

MARCUS: Das letzte Mal habe ich gefragt, ob sie da noch mal hinfährt, in die Ukraine. Und da hat sie gesagt: „Ja.“ Man sieht es auch manchmal im Fernsehen. Da war es mir richtig schlecht, als ich das gesehen habe.

FRIEDER: Und hast du einen Lieblingsort in Borna?

MARCUS: Der Volksplatz. Da gehe ich gerne hin, weil der so schön alt ist. Da sind meistens so Ver­anstal­tungen, wie Après-Ski-Parties und so. Da habe ich auch immer beim Weih­nachts­baum­weit­schießen mitgemacht. Die machen da wirklich verschiedene Events. Meine Lieb­lings­ver­an­stal­tung war der Traum­zauber­baum, eine Musik­ver­anstal­tung. Das war früher so eine Kinderserie. Ich war auch schon mal mit meinem Bruder bei Matthias Reim dort. Außerdem geh ich gern zu den Musicals von der Dinter-Schule. Aber die kommen im Stadt­kulturhaus.

SANDRA: Und kannst du dir eigentlich vorstellen, hier irgendwann wieder auszuziehen?

MARCUS: Wenn ich alt bin, dann müsste ich halt wieder raus.

HEIKE: Alle, die aus der Werkstatt ausscheiden und in Rente gehen, scheiden auch hier aus dieser Außen­wohn­gruppe aus. Die gehen dann in einen anderen Betreuungs­bereich in Borna-Nord. Da gibt es noch so eine Wohngruppe, die betreut wird über die Lebenshilfe. Die haben dann dort meistens wie so eine eigene kleine eigene Wohnung. Es wird aber trotzdem noch so ein bisschen kontrolliert. Aber das wäre bei Marcus sehr schwierig, weil mit dem Bedienen eines Ofen und so, hätte ich meine Bedenken.

MARCUS: Da könnte ich ja auch hier, bei der Außen­wohn­gruppe, mit essen.

HEIKE: Wir werden sehen. Er hat ja noch ein paar Jahre.

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