Oksana Sulyma
FRIEDER: Wo bist du aufgewachsen, Oksana?
OKSANA: Ich bin in der Ukraine aufgewachsen. Zwischen Charkiw und Kyjiw gibt es die wunderschöne Stadt Poltawa. Da in der Umgebung bin ich aufgewachsen. Später habe ich an der Universität Poltawa studiert und dann auch dort unterrichtet.
FRIEDER: Welches Fach hast du unterrichtet?
OKSANA: Soll ich ehrlich sein? Deutsche Kinderliteratur. Das war ein Fach für die Erzieher*innen, die Deutsch unterrichten. Wir haben verschiedene deutsche Gedichte und Lieder gelernt und Literatur gelesen. Also alles, was als erste Wörter mit den Kleinkindern im Unterricht geeignet ist. Ich habe ein bisschen Deutsch für Anfänger unterrichtet, danach habe ich promoviert und mich um ein Stipendium beworben. Ich habe zwei Semester in Deutschland verbracht, nachdem ich ein Stipendium vom Diakonischen Werk bekommen hatte. Das ist schon lange her, fast zwanzig Jahre. 2005 war ich in Nürnberg. Dann bin ich zurück in die Ukraine gekommen, habe promoviert und an der Nationalen Pädagogischen Akademie als Wissenschaftlerin gearbeitet. Mein Fach war Komparativistik und vergleichende Pädagogik. Ich habe das deutsche und das ukrainische Bildungssystem untersucht. Wir haben immer geschaut, was es Gutes bei euch gibt und was man bei uns verbessern kann. 2007 bin ich nach Irpin gezogen, weil ich damals schon verheiratet war und mein Mann ursprünglich aus Irpin kommt. Damals habe ich von dem neuen jungen Bürgermeister, der 2014 die Wahlen gewonnen hat, ein Angebot bekommen, bei der Stadt zu arbeiten, weil ich als Wissenschaftlerin an der Akademie schon Jugendaustauschprojekte gemacht habe. Ich habe dann mit Jugendlichen aus Irpin und aus Dresden ein Austauschprojekt gemacht, das auch medial begleitet wurde. Dann habe ich das Angebot bekommen, ein internationales Projekt zu leiten. Das Thema durfte ich selbst auswählen. Weil ich Pädagogin bin, habe ich ein Bildungsprojekt vorgeschlagen. Das war damals ein wichtiges Thema, weil in der Ukraine ein neues Bildungsgesetz mit neuen Ausbildungsmöglichkeiten eingeführt wurde, das die Grundschullehrer*innen ganz neu unterrichten sollten. Das System war mir schon bekannt, denn das gab es schon in Deutschland. Deswegen haben wir Borna angeboten, ein Bildungsprojekt zu starten. Unsere Lehrer*innen und Schulleiter*innen gingen nach Borna, um dort ein einwöchiges Praktikum an der Schule zu machen. Später kam eine Gruppe von deutschen Lehrer*innen nach Irpin. Da tauschten wir unsere Kenntnisse und Erfahrungen aus. Am Ende gab es eine tolle pädagogische Konferenz mit mehr als hundertfünfzig Teilnehmer*innen. Das war ein echter Erfolg. Als die deutschen Lehrer*innen zu uns kamen, haben unsere Teilnehmer*innen gezeigt, was sie aus Borna mitgenommen und in der Ukraine umgesetzt haben. Das war wirklich hervorragend. Die deutschen Lehrer*innen haben gefragt, wie wir das geschafft haben. Es gab auch eine Präsentation des Schulleiters: Dreizehn Veränderungen an der Schule Nummer dreizehn. Wir haben in zwei Monaten viel an der Schule in Irpin verändert.
SANDRA: Kannst du mal ein Beispiel nennen?
OKSANA: Früher sah die Schule sehr streng aus, wie aus Sowjetzeiten. Graue Korridore, Klassenzimmer voller Tabellen, keine bunt bemalten Wände oder so etwas. Dann wurden ganz tolle bunte Bänke in den Schulhof gestellt und ein Spielplatz gebaut. Sogar die Toiletten wurden renoviert. Wir schämen uns dafür: früher war es so, dass es in den Toiletten zwar Zwischenwände gab, aber keine Türen. Das ging so nicht mehr. Der Speisesaal wurde auch renoviert. Die Tische waren früher grau und jetzt sind sie bunt. Dann haben sie auch einen Parkplatz für Fahrräder gebaut. Es ging nicht nur um die Methodik des Unterrichts – da gab es auch viele Veränderungen. Aber insgesamt wurde darauf Wert gelegt, dass die Schule mehr wie ein Zuhause für die Kinder wird. Das war das Wichtigste an diesem Projekt. Sie haben innerhalb von zwei Jahren viele Ideen realisiert.
Die ganze Stadt hat sich langsam verändert. Fast achtzig Prozent der Einwohner*innen sind stolz auf die Stadt. Es gab so viele wichtige Veränderungen. Beispielsweise gab es für Familien mit Kindern damals kaum Spielplätze, nur in den Kindergärten gab es welche. Jetzt haben wir fast in jedem Hof einen Spielplatz, jede Grünanlage hat große Spielplätze. Wir hatten keine Orte, wo man Rad fahren, auf der Bank sitzen, Kaffee mit Freunden trinken oder einfach nur die Sonne genießen konnte. Innerhalb von zwei Jahren wurden in der Stadt mehr als siebzehn Grünanlagen angelegt. Irpin ist eine sehr grüne Stadt. Wir haben auch einen Fluss, der heißt auch Irpin. Die Stadt wurde nach dem Fluss benannt. Die Stadt ist wirklich toll. Es ist eine europäische Stadt. Unser ehemaliger Bürgermeister hat viele Länder besucht und immer neue Ideen in die Stadt gebracht. Natürlich haben wir viele Dinge, die wir noch verändern, umbauen oder neu machen müssen. Aber wir haben schon Vieles gemacht während der fünf Jahre seiner Amtszeit. Jetzt haben wir einen neuen Bürgermeister aus seiner Partei, einen Nachfolger. Deswegen gehen wir weiter in die richtige Richtung. Wir möchten unsere Stadt weiterentwickeln und verschönern.
FRIEDER: Wie ist die Situation gerade?
OKSANA: Sehr grausam. Viele Privathäuser sind zerstört. Fast alle Schulen sind entweder völlig zerstört oder sehr beschädigt. Kindergärten und Kulturhäuser sind auch fast völlig zerstört. Bei der Klinik gibt es auch mehrere Beschädigungen. Aber bei uns gibt es so ein Sprichwort: „Man soll die Hände nicht ruhen lassen.“ Wir möchten unsere Stadt wieder aufbauen. Neben dem Militär, das die Stadt gerade von Minen befreit, räumen Freiwillige die Stadt auf.
SANDRA: Ist es für dich jetzt so, als ob du kein Zuhause hast?
OKSANA: Vor einigen Wochen habe ich die Nachricht bekommen, dass ich kein Zuhause mehr habe. Mein Haus ist völlig zerstört. Ich habe viel geweint. Für mich ist es unvorstellbar. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas je erlebe. Es ist schwer vorstellbar, wie man sich fühlt. Wenn dir jemand sagt, dass alles was du jetzt noch hast, in einen Rucksack passt – was würdest du dann machen? Wie würdest du dich dann fühlen? Was kann man den Kindern sagen, wenn sie fragen: “Mama, wann gehen wir zurück nach Hause?” Das ist wirklich schwierig. Die Nachbarn vier Häuser weiter haben gesehen, als die Rakete einschlug und explodiert ist. Die haben alles gesehen und haben uns sofort eine Nachricht geschickt, dass es jetzt unser Haus nicht mehr gibt. Danach konnten sie nicht auf die Straße. Sie durften nicht raus, weil die Russen schon auf der Straße waren. Sie hatten keine Netzverbindung, deswegen konnten sie uns keine Nachrichten mehr schicken. Es hat sich dann herausgestellt, dass die Rakete in die Garage vor dem Haus eingetroffen war. Das Haus steht, nur das Dach ist beschädigt und die Fenster und Türen sind alle kaputt. Aber das kann man alles reparieren. Das Wichtigste steht noch.
FRIEDER: Immerhin das.
OKSANA: Ja. Aber wisst ihr, du freust dich und dann denkst du aber sofort daran, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist und du noch nicht weißt, ob du dich nicht zu früh gefreut hast. Ob sie wieder zurückkommen oder nicht. Ich möchte unbedingt alles wieder in voller Pracht vorfinden. Wir werden unsere Stadt wieder aufbauen. Fast fünfundneunzig Prozent sind evakuiert aus der Stadt, aber das war wirklich schwer.
SANDRA: Wo genau liegt Irpin eigentlich?
OKSANA: Sieben Kilometer nördlich von Kyjiw. Im Winter haben wir auch Schnee. Eine sehr schöne Stadt. Am Fluss haben wir schöne Orte. Das möchte ich alles wieder so vorfinden.
FRIEDER: Wie bist du nach Borna gekommen?
OKSANA: Ich bin in Irpin für internationale Beziehungen zuständig. Wir haben Partnerstädte in Polen, Lettland, Georgien, den Vereinigten Staaten und in Deutschland. Am ersten Tag des Krieges hat mir der Bürgermeister deutlich gesagt, dass ich mich weiter darum kümmern muss, wenn uns jemand aus den Partnerstädten Hilfe anbietet. Und dass ich zuständig bin für die Evakuierung von Frauen und Kindern in die Partnerstädte, wenn es nötig ist. Simone Luedtke hat angerufen und gesagt, wenn wir Hilfe brauchen, müssen wir das nur sagen. Sie hat angeboten, dass die Frauen nach Borna kommen können. Wir hatten auch ein Angebot aus Alytus, das ist unsere Partnerstadt in Lettland. Dann noch aus Pisz in Polen. Auf Facebook hat unser Bürgermeister Oleksandr Markuschyn geschrieben, dass die Leute alle Informationen unter meiner Nummer bekommen können.
Ab diesem Tag habe ich viele tausende Geschichten, Bitten und Fragen gehört und beantwortet. Ich persönlich und meine Familie sind am vierten Tag des Krieges evakuiert worden. Das war schrecklich, unter Schüssen. Wir sind mit dem Auto aus der Stadt gekommen, aber die Situation war schon ziemlich hart. Wir sind zu Freunden in die Westukraine gefahren. Per Telefon war ich die ganze Zeit im Dienst. Ich habe die Leute per Telefon begleitet und koordiniert und Fragen beantwortet. Sie wollten wissen, wie sie nach Polen, Lettland oder Deutschland kommen, wo man übernachten kann, wie viele Personen mitkommen dürfen, welche Papiere gebraucht werden oder über welche Grenze es am schnellsten geht und so weiter. Ich habe ständig mit meinem Kollegen Hans Robert Scheibe aus Borna telefoniert und ihm alle Unterlagen und Papiere geschickt und er hat mir die Einladungen für die Leute geschickt. Was die Leute hier in Borna gemacht haben, ist unglaublich. Die Stadt hat ein Konto eröffnet für Spenden für die Menschen aus Irpin. Es gab sehr viele Freiwillige, die bis zur polnisch-ukrainischen Grenze kamen und unsere Frauen mit den Kindern abgeholt und nach Borna gebracht haben. Es gibt viele Leute, die mithelfen bei der Verteilung von Kleidung und Lebensmitteln und so weiter. Die ersten Nächte kamen die meisten Leute in Pensionen oder Hotels unter. Wir haben die Leute ins Hotel “Drei Rosen” oder in die Pension vom Bierstüb’l und in die Altstadtpension gebracht. In der ersten Zeit wurde auch noch nach Gästewohnungen und Sozialwohnungen gesucht. Dann hat mir Simone Luedtke klar gesagt, dass ich nach Borna kommen soll, weil meine Hilfe hier gebraucht wird. An dem Ort, wo wir in der Ukraine waren, war es auch nicht ruhig. Es gab mehrere Luftattacken.
FRIEDER: In der Westukraine?
OKSANA: Ja, genau, das war in Lutsk. Dort gab es auch Luftangriffe bei der Tankstelle und dem Transportflughafen. Jeden Tag hörst du den Fliegeralarm und dann musst du so schnell wie möglich mit den Kinder in den Keller laufen. Am Abend darfst du kein Licht anmachen. Das war natürlich nicht so stressig wie in Irpin, wo man jeden Tag ohne Licht, ohne Wasser und Essen im Keller verbringen musste. Aber trotzdem hab ich damals verstanden, dass ich viel besser helfen kann, wenn ich hierher komme, als aus der Ferne. Ich muss hier immer telefonieren und abklären, wer wohin gehen soll. Ich gehe ins Hotel und beantworte alle Fragen der Leute und zeige ihnen, wo was ist und wie was funktioniert. Ich helfe beim Landratsamt, bei den Ärzten, in der Schule und überall, wo es möglich ist. Zum Beispiel hat mich neulich eine Frau spät in der Nacht angerufen und gesagt, dass es ihrem Kind schlecht geht, und gefragt, wie man einen Notarzt anrufen kann. Der Notarzt sagte, er komme nicht. Dann bin ich mitten in der Nacht mit dem Kind und der Mutter in die Sana Klinik.
FRIEDER: Voll die wichtige Arbeit, die du da machst. Wie viele Leute sind schon hierher gekommen?
OKSANA: Schon mehr als hundertzwanzig Menschen aus Irpin. Es sind vielleicht noch mehr Leute aus der Ukraine, aber im Rahmen unseres Programms waren es mehr als hundertzwanzig. Vorgestern ist noch eine Familie aus fünf Personen und eine Frau mit Kind gekommen. Hier können sich die Kinder ein bisschen beruhigen. Natürlich haben wir auch hier Probleme. Wenn wir Flugzeuge hören, bekommen wir Angst, weil wir nicht wissen, was dann passiert. Jeden Mittwoch prüft man in in Sachsen die Sirenen. Das wusste ich früher nicht. Als ich sie zum ersten Mal gehört habe, habe ich mich gefragt, was eigentlich los ist. Ich war bei einem Termin in der Sana Klinik, da war auch die Oberbürgermeisterin Simone Luedtke dabei. Sie hat gesagt: “Bleib ruhig, es ist alles okay! Es wird nur die Sirene geprüft.” Ich musste dann gleich in die WhatsApp-Gruppe schreiben, dass die Leute sich beruhigen können. Die waren schon beunruhigt und wussten nicht, was sie machen sollen. Das ist wirklich schwierig, weil du nicht weißt, ob es hier sicher ist oder nicht. Sicherheit ist so zerbrechlich.
SANDRA: Du hast ja den Städteaustausch schon lange mitgemacht. Hättest du je gedacht, dass Städtepartnerschaft auch so etwas bedeuten kann?
OKSANA: Ich bin mir sicher, dass das nur wegen unserer Zusammenarbeit in der Städtepartnerschaft funktioniert hat. Wir haben nicht nur Projekte gemacht. Es gab viele Teilnehmer*innen, die sich gegenseitig kennengelernt und angefreundet haben und in Kontakt geblieben sind. Wir haben sogar eine WhatsApp-Gruppe mit den Teilnehmenden aus Borna – Feuerwehrleute und Lehrer*innen. Als ich noch in der Ukraine war, haben wir uns immer irgendwelche Nachrichten geschickt und uns auch gegenseitig zum Geburtstag gratuliert. Wir haben auch sehr viel mit der Freiwilligen Feuerwehr Borna zusammen gearbeitet. Bei uns gibt es sonst nur die Berufsfeuerwehr. Im letzten Jahr gab es gesetzliche Änderungen, dass die Städte eine Freiwillige Feuerwehr gründen dürfen. Irpin hat das als erste Stadt in der Ukraine umgesetzt. Wir haben dann eine Drehleiter von der Freiwilligen Feuerwehr Borna geschenkt bekommen. Dieses Fahrzeug hilft jetzt und hat schon mehrere Leute gerettet. Das ist seit 2017 eine echte Freundschaft. Wir fühlen uns hier wie zu Hause bei Freunden. Deswegen hat die Bürgermeisterin klar gesagt, dass für die Leute aus Irpin keine Sporthalle und kein Zeltlager organisiert werden soll. Dass sie alles tun möchte, damit die Leute sich hier zu Hause fühlen. Die bekommen jetzt Sozialwohnungen, wo sie zur Ruhe kommen können. Wenn noch mehr Leute kommen, dann könnte das schwieriger werden. Die irpinische Gemeinschaft freut sich so riesig, dass sie hier echte Freunde gefunden haben. Wir haben schon viele Veranstaltungen und Angebote gehabt. Zum Beispiel gab es einen Termin in der Stadtbibliothek, im Stadtkulturhaus einen für die Kinder oder eine Veranstaltung von der Freiwilligen Feuerwehr Borna für die Frauen von der Berufsfeuerwehr aus Irpin. Das war wirklich berührend. Die Leute wissen, dass sie nicht im Stich gelassen werden. Dass die Leute sich wirklich dafür interessieren, wie es uns geht und was uns fehlt.
Vor kurzem gab es einen großen Basar. Da konnten die Familien verschiedene Sachen für sich aussuchen. Kinderkleidung zum Beispiel oder saubere Gebrauchtwaren und Lebensmittel. Das ist wirklich schön. Sehr viel wird hier in Borna für uns gemacht. Wir haben auch Leute in Lettland, da bekommen sie auch Unterstützung. Dort gibt es ein Wohnheim mit mehr als dreihundert Plätzen für Ukrainer. Sie bekommen auch finanzielle Hilfe von der Stadt und eine Arbeitserlaubnis. In Polen finden die Menschen Unterkunft in Familien oder bekommen Sozialwohnungen angeboten. Andere Irpiner sind in der Ukraine geblieben, bei Verwandten in der Westukraine in sichereren Orten. Der Weg ins Ausland ist wirklich nicht so leicht. Wir haben hier in der Gruppe eine Frau, die war zehn Tage unterwegs mit zwei Kindern. Sie sind zuerst nach Moldawien und dann von dort nach Ungarn, dann nach Slowenien. Hatten dann eine zehntägige Reise hinter sich. Sind immer wieder in Zeltlagern für Geflüchtete untergekommen. Eine andere Frau hat ein vier Monate altes Baby. Sie kann selbst nicht stillen, das Kind bekommt nur Milchpulver. Unterwegs war es sehr kompliziert, irgendwo heißes Wasser zu bekommen, um die Milch zuzubereiten. Wir haben hier auch eine Frau, die bei der Stadt Irpin arbeitet, aber in Butscha wohnt. Butscha war früher Teil des Kreises Irpin. Jetzt nach der Dezentralisierung ist die Stadt selbstständig geworden. Die Frau ist am zehnten oder zwölften März raus aus ihrem Versteck. Mehr als zehn Tage hat sie in der Badewanne verbracht, weil das andere Zimmer Fenster hatte und das zu gefährlich war. Sie konnte auch nicht in den Keller runter gehen, weil dort schon zu viele Leute waren. Es gab fast nichts zu essen, und als sie versucht hatten raus zu gehen, wurde die erste Gruppe erschossen. Als sie schon nichts mehr zu essen und trinken hatten, haben sie beschlossen, sich trotzdem zu evakuieren. Sie hat gesagt, es war sehr schrecklich damals. Entweder sie bleiben im Keller und sterben dort, oder sie sterben unterwegs – es gab keine andere Wahl. Sie sind dann trotzdem gegangen und haben Glück gehabt. Sie hat erzählt, dass auf der Straße sehr viele Leichen lagen. Diese Menschen wurden erschossen. Sie hat gesagt, dass man das nie vergessen und nie verzeihen kann.
Soll ich noch etwas über Borna erzählen? Borna ist eine wunderschöne Stadt mit vielen netten Leuten, die ich hier kennengelernt habe.
FRIEDER: Wie geht es dir hier?
OKSANA: Ich fühle mich hier sehr wohl. Unter diesen Umständen ist mir natürlich nicht so wohl. Dennoch ist es eine sehr schöne Stadt. Es ist sehr grün hier und es gibt viele Seen, Wälder und schöne Häuser. Ich mag Deutschland. Die Traditionen und die Küche und die Musik.
SANDRA: Siehst du viele Gemeinsamkeiten zwischen Borna und Irpin?
OKSANA: Ja, das kann man so sagen. Für mich ist es dort und hier gemütlich. Bei uns gibt es auch viele Seen. Es gibt hier viele Vögel. Die fangen sehr früh an zu singen. Ab vier Uhr morgens kann man sie schon hören.
SANDRA: Du arbeitest ja viel und dein Handy vibriert die ganze Zeit. Gibt es hier einen Ort wo du Ruhe findest?
OKSANA: Wenn ich einfach durch die Stadt bummle. Am Breiten Teich gibt es schöne Plätze mit all diesen Enten und Schwänen. Ich mag die Natur einfach sehr. Ich bin ein Mensch, der immer lebensfroh ist. Ich kann mich immer über Kleinigkeiten freuen. Deswegen ist es für mich einfach, einen Ort zu finden, wo ich mich wohl fühle.
FRIEDER: Bist du bei der Stadt angestellt?
OKSANA: Ja, in Irpin. Hier bin ich nicht angestellt, sondern arbeite freiwillig. Ich habe noch keine Arbeitserlaubnis.
SANDRA: Du machst das alles gerade freiwillig?
OKSANA: Ja, alles was ich mache und organisiere.
FRIEDER: Wir dachten, dass du bei der Stadt Borna angestellt bist. Dass du alles freiwillig machst, ist der Wahnsinn!
OKSANA: Wenn mir die Leute auf die Nerven gehen, dann sage ich, dass ich jetzt Urlaub mache und sie keinen Anruf und keine Informationen mehr von mir bekommen. Wenn ich zum Beispiel ins Hotel komme, kommen alle runter und alle wollen sofort etwas. Gleichzeitig, nicht der Reihe nach. Alle stellen mir so viele Fragen. Es gibt viele Kleinigkeiten, die mir nicht wichtig sind, aber den Leuten schon. Zum Beispiel, welches Shampoo sie benutzen können, weil ihre Haare so trocken sind und sie fragen mich, ob ich ihnen etwas empfehlen kann. Oder die Zahnbürste ist nicht so weich wie sie möchten. Wie sie beim Arzt einen Termin bekommen können. Oder wo sie Handschuhe kaufen können, obwohl es draußen schon warm ist. Wo sie Geld wechseln können. Wie sie nach Leipzig kommen können und ob ich ihnen einen Fahrplan ausdrucken kann. Viel Papierkram auch.
FRIEDER: Du bist auch die Einzige aus eurer Gruppe, die so gut Deutsch spricht, oder?
OKSANA: Ich spreche es nicht so gut, wie ich gerne würde. Während der letzten zwei Jahre, habe ich viel Deutsch vergessen. Wenn man schreibt, kann man es nochmal überprüfen und korrigieren oder doch löschen und neu schreiben. Wenn ich spreche, dann merke ich, dass es echt schwer ist.
SANDRA: Ich weiß gar nicht, was du meinst. Du sprichst perfekt Deutsch.
OKSANA: Ich bemühe mich, mein Deutsch zu verbessern. Und manchmal kommen die Leute und sagen, dass sie etwas brauchen und dann kenne ich das ukrainische Wort nicht. Am Auto einer Familie war die Sicherung kaputt und sie sind zu mir gekommen. Ich sagte ihnen, dass ich nichts von Autos verstehe. Wirklich nichts. Man muss es mir zuerst zeigen und dann versuche ich es im Wörterbuch zu finden.
Die letzte Familie, die mit dem Auto kam, war ganz kurz unter Luftattacke. Die Scheibe ist zerbrochen, das Dach ist ein bisschen aufgerissen und den Kofferraum kann man nicht mehr richtig zu machen. Es gab viele Beschädigungen am Auto, denn auf das Auto wurde geschossen. In der Tür waren noch Einschusslöcher. Aber sie sind noch gesund nach Polen gekommen. Das war schrecklich. Ich kann mir das gut vorstellen. Als wir mit dem Auto unterwegs waren, waren auf der rechten Seite Panzer und die schossen irgendwohin. Wir haben nur die Explosionen gesehen. Als wir die Straße hinter uns gelassen haben, sind die Militärflugzeuge ganz tief über die Straße geflogen. Wenn knapp über dir ein Flugzeug fliegt, während du nach vorne fährst, kannst du die Waffen sehen. Du sitzt da und denkst nur: „Oh Gott! Und ich bin nur ein Passagier. Wie fühlt sich der Fahrer wohl, wenn er vor sich das Flugzeug sieht?“
SANDRA: Wie erklärst du das alles deinen Kindern?
OKSANA: Die waren sehr nervös die ersten Tage und wollten immer in meiner Nähe bleiben. Die sind sieben und neun Jahre alt. Jetzt geht es schon besser, weil sie hier schon die Schule besuchen dürfen. Es gibt da diese Integrationsklasse. Da sind schon mehrere Kinder aus Irpin. Die freuen sich schon neue Freunde kennengelernt zu haben und sie fühlen sich wohl. Sie finden die Schule schön und freundlich. Die Lehrer*innen, die Deutsch und Englisch unterrichten, bemühen sich immer den Kindern Freude entgegen zu bringen. Es freut mich sehr, dass das so schnell hier in Borna organisiert wurde, wie so Vieles in der Stadt. Sie haben einen Krisenstab organisiert. Die Oberbürgermeisterin leitet das alles und weiß, was überall passiert. Zum Beispiel, wer schon umgezogen ist oder nicht oder welche Familie kommt. Wenn sie es während des Arbeitstages nicht geschafft hat, dann schickt sie auch spät in der Nacht die Einladungen für die Familien, die an dem Tag den Antrag geschickt haben. Das ist unglaublich. Die Solidarität ist nicht nur draufgeschrieben, sondern sie ist wirklich da. Sie haben früher schon sehr viel geholfen und die Hilfe die sie jetzt leisten, werden wir nie vergessen. Wahre Freunde hat man in Freude und Not.
SANDRA: Kannst du dich an deinen ersten Besuch in Borna erinnern?
OKSANA: Der erste Besuch war mit den Lehrer*innen. Das war die Reise im Rahmen des Partnerschaftsprojekts. Die Stadt hatte ich kleiner in Erinnerung. Ich sehe jetzt, dass Borna eine große Stadt ist. Die Stadtmitte fand ich sehr schön und die Häuser mit den bemalten Wänden. Von der Schule waren wir auch sehr begeistert, auch weil ich Pädagogin bin. Alles, was ich da gesehen habe, war echt herrlich. Alle Leute waren freundlich und offen. Wenn ich mich nicht irre, waren wir zum ersten mal im Juni 2017 da. Ich habe dann viele Geschenke für die Kleinen mitgebracht, weil ich ja eine Woche ganz weit weg war. Sie haben ständig angerufen. Sie haben mir immer gesagt, dass sie nächstes Mal unbedingt mitkommen wollen. Sie meinten, dass sie in den großen Koffer passen. Ich meinte, dass das nicht geht, weil ich die ganze Zeit in der Feuerwehrhalle sein würde. Sie meinten, dass sie Feuerwehrleute mögen und wollten unbedingt mit. Sie mussten aber zu Hause bleiben. Es ist so komisch, dass wir beim Neujahrsfest geplant haben, dass wir dieses Jahr eine Europareise machen. Jetzt denke ich, dass man mit den Wünschen vorsichtiger sein muss. Das ist jetzt eine Europareise, aber … Wir waren schon im Leipziger Zoo und ich habe gedacht, dass ich mich so gefreut hätte, wenn die Umstände andere wären. Ich kann mich nicht richtig freuen, weil ich immer daran denke, was zu Hause passiert und wie es weiter geht. Ob es Luftattacken gibt. Wir haben ja noch viele Freunde und Verwandte da. Jetzt sehe ich, dass es meinen Kindern ganz gut geht, aber ich kann es nicht genießen. Man muss lernen, dass Mitgefühl auch sehr wichtig ist, aber man sich selbst nicht verlieren darf. Wir haben hier viele Frauen, die wirklich Probleme haben, weil sie kein Zuhause mehr haben und nicht wissen, wie sie weiter leben sollen. Deswegen ist es auch sehr wichtig, sich Zeit zu nehmen, um sie zu unterstützen. Irgendwo Tee trinken oder zusammen durch die Stadt zu bummeln. Diese Kleinigkeiten können die Stimmung der Frauen verbessern und sie beruhigen. Deswegen machen wir alles mit, was uns die Deutschen anbieten. Die haben schon eine große Liste für die Kinder. Sie werden bei der Mühle Eier suchen zu Ostern. Das wird schön. Danach gibt es noch ein Lagerfeuer. Das wird ein Erlebnis. Solche Traditionen haben wir in der Ukraine nicht, deswegen wird das bestimmt ein schöner Tag.
SANDRA: Wenn du jetzt Richtung Zukunft guckst: Wenn man dann endlich nach Irpin zurückziehen kann, wie könnte Borna da unterstützen?
OKSANA: Es ist eine ganz schwere Frage. Wir haben auf der Internetseite unserer Stadt Umfragen gemacht, welche Leute wann zurückkehren möchten. Manche sagen, sobald sie dürfen, andere sagen, wenn der Krieg zu Ende geht und nur zwei Prozent haben gesagt, dass sie nicht mehr nach Irpin zurückkehren wollen. Was ich persönlich denke: Nach all diesen schrecklichen Bildern aus dem Internet, all diesen Nachrichten über erschossene Zivilisten, Vergewaltigungen an Kindern und Frauen, kehre ich erst nach Hause zurück, wenn der Krieg zu Ende ist. Aber nicht früher. Die Stadt Irpin ist jetzt zwar befreit, aber wir wissen nicht, wie es weitergeht. Das Leben von meinen Kindern ist mir wichtiger. Wenn wir zurückkehren, möchten wir natürlich unsere Stadt wiederaufbauen.
Aber wie es wird und wie Borna helfen kann, weiß ich nicht. Es gibt schon eine Liste von Freiwilligen, die nach Irpin kommen möchten, um die Stadt wiederaufzubauen. Zum Beispiel weiß ich von den Feuerwehrleuten, dass sie helfen möchten. Aber jetzt ist es noch kompliziert, der Krieg ist noch nicht zu Ende. In der Stadt gibt es bis jetzt keine Wasserleitungen, es gibt kein Licht, kein Gas. Das Essen wird auf dem Lagerfeuer gekocht. Es gibt keine Geschäfte und Lebensmittel bekommst du nur von den Freiwilligen, die Hilfsgüter nach Irpin bringen. Gerade ist es noch kompliziert für Familien mit Kindern zurückzukehren. Wo soll man denn die Baumaterialien kaufen, wenn wir unser Haus reparieren müssen? Wie sollen wir das in die Stadt bringen? Um die Stadt herum hatten wir mehr als fünf Brücken, die sind nun abgerissen. Ich hoffe so sehr, dass wir in Zukunft weiter irgendwelche Projekte machen werden. Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen. Es gibt auch Nachrichten von der Sana Klinik. Wir dürften Schwerverletzte, wie Soldaten, hier im Sana Klinikum unterbringen. Wir warten jetzt noch auf die Erlaubnis vom ukrainischen Ministerium.
Von der Gruppe der Ukrainer*innen kenne ich nur zwei bis drei Familien persönlich. Die Frau, die am Sonntag kam, ist die Ehefrau von unserem Hausarzt. Ich kenne sie nicht, aber ihn. Das ist der Lieblingsarzt meiner Tochter. Ich war froh, dass ich solchen Leute auch geholfen habe. Als er mich angerufen hat und gefragt hat, ob ich ihm helfen kann, weil seine Frau an der Grenze steht und nicht weiß, wo sie hin soll, da habe ich gesagt, dass er an der richtigen Adresse ist. Er war wirklich so froh, dass sie glücklich nach Borna gekommen sind. Alle bedanken sich ganz herzlich. Sie haben nicht daran geglaubt. Jeder hat Angst. Es gab auch einen Berufsfeuerwehrmann, der schon mal hier war im Rahmen des Projektes, als wir die Drehleiter nach Irpin gebracht haben. Seine Ehefrau wusste dadurch schon viel über Borna. Der Mann hat schon viele Freunde hier. Die Freunde haben ihm schon am ersten Tag geschrieben, dass er seine Familie nach Borna bringen soll. Sie wollte in der Ukraine bleiben und sie machte sich Sorgen um ihren Mann, obwohl er weit weg von ihr ist. Sie sind von Irpin aus in ein Dorf geflohen, das aber in zwei oder drei Tagen bei einer Luftattacke zerbombt wurde. Dann wussten sie, dass sie nach Borna mussten. Die Bornaer Feuerwehrleute haben die ganze Familie von der Grenze abgeholt. Der Feuerwehrmann ist dort geblieben und die Frau ist mit dem Kind und ihrer Schwester und Nichten gekommen. Die sind jetzt glücklich, dass sie hier sind. Warum haben sie damals nicht zugehört? Es war so schwierig und kompliziert für die Kinder. Irgendwo an einem unbekanntem Ort mit allen Kindern zu verbringen. Natürlich bekommen die Leute Essen und Trinken und einen Platz zum Schlafen, aber meistens können die Leute nachts nicht schlafen und verbringen die Nächte im Keller. Ich will noch über die politische Seite sprechen: Ich möchte sagen, dass wir sehr stolz auf unseren Botschafter Andrij Melnyk sind, obwohl er in den deutschen Zeitungen ein undiplomatischer Diplomat genannt wurde. Es ist so schade, dass die europäischen Länder uns nicht als erstes geholfen haben, den Luftraum über der Ukraine zu schließen. Wir hätten sonst nicht so eine große Zerstörung und so viele tote Zivilisten. Es ist auch schade, dass uns acht Jahre lang nicht geglaubt wurde, dass sich der Krieg anbahnt.
Niemand auf der politischen Ebene hat uns das geglaubt. Alle haben gedacht, dass wir im Land einen Konflikt zwischen Westen und Osten haben. In Irpin selbst gab es im Jahre 2014 mehr als 12.000 Binnenflüchtlinge aus dem Donezk-Gebiet. Jetzt müssen diese Leute wieder irgendwohin. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Russen und Ukrainern. Wir sind besser ausgebildet und unsere Politik und unsere Werte haben sich immer an Europa orientiert. Wir schätzen das mehr.
FRIEDER: Die Geschichte ist auch eine sehr andere.
OKSANA: Ganz anders als Vladimir Putin das damals in seiner Rede erzählt hat. Ich habe mich gefragt, wie man sich so etwas ausdenken kann.