RAFAEL: Seit wann bist du in Weimar?
ALBINA: Ich bin vor zwei Monaten, Mitte September aus Suhl hierher gekommen. Wenn man aus der der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl hierher kommt, ist das tatsächlich etwas hundertprozentig anderes. Auch im Vergleich zu anderen deutschen Städten ist das ein großer Unterschied. Ich dachte früher, Hamburg ist die beste Stadt Deutschlands. Aber heute bin ich mir sicher, dass Weimar absolut ideal ist, für alle Sphären des Lebens. Hier gibts eine ganz große Intellektuellen-Schicht. Keine Ahnung, ob die selber so einen Begriff mögen würden, aber man kann sich hier mit Menschen tatsächlich unterhalten, und das tut gut.
RAFAEL: Das ging in Suhl nicht so gut?
ALBINA: Naja, du darfst nicht vergessen: Wenn du in Suhl in der Erstaufnahmestelle bist, dann gibt es nicht so viele Menschen die deine Muttersprache oder Deutsch sprechen. Also war die einzige Möglichkeit, sich mit Securities zu unterhalten. Das habe ich auch hundertprozentig ausgenutzt. Securities waren die einzigen Gesprächspartner in Suhl.
RAFAEL: Ist es von dort aus schwierig, Leute zu treffen, die in Suhl wohnen?
ALBINA: Menschen aus Suhl? Nein das ist nicht schwierig. Aber in Deutschland ist es so, dass man nicht viele Menschen auf der Straße sieht. Hier in Weimar ist das eine Ausnahme. Natürlich sind in großen Städten wie Frankfurt, Berlin oder Hamburg Menschen auf der Straße. In Suhl, oder anderen Kleinstädten, da wohnen ein paar tausend Menschen und die Straßen sind leer. Wie ausgestorben.
RAFAEL: Aber liegt es nur daran, dass da zu wenig Leute sind, oder auch daran, dass sie nicht darauf reagieren, wenn du sie ansprechen würdest?
ALBINA: Oh nein, natürlich reagieren die. Ich denke nicht, dass es daran liegt, dass die Menschen nicht bereit zu Kontakt wären. Ganz im Gegenteil! Es gibt ja heutzutage viele alte Menschen und besonders heute, in diesen Corona-Zeiten, sind viele bereit, egal mit wem zu reden. Es gibt einen Mangel an Kommunikation. Ich arbeite jetzt ehrenamtlich in einem Umsonstladen. Da kommen alte Menschen, so wie diese alte Oma vor kurzem. Die hat gefragt, ob sie sich einen Rock aussuchen kann. Dann hat sie über ihr ganzes Leben und all ihre Probleme geredet. Das heißt, die brauchen jetzt sehr viel Kommunikation, brauchen diese Unterstützung. Die haben nicht die Möglichkeit richtig mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Es ist gerade jetzt problematisch, weil alles verboten ist und man Abstand halten muss.
RAFAEL: Ich fand interessant und stark, dass du einen Blog gemacht und ganz viel öffentlich gemacht hast, was du an Missständen erlebt hast.
ALBINA: Ich hatte ja keine andere Wahl. Das was man zur Zeit in dieser Erstaufnahmestelle beobachten kann, das ist leider seit 2014 so, seitdem diese Stelle überhaupt existiert. Das heißt, es verändert sich nichts. Es wechseln die Chefs, es wechseln die Verantwortlichen, aber an der Erstaufnahmestelle selbst ändert sich nichts. Außer, dass seit Februar 2020 da noch ein Gitter, ein Zaun um diesen Ort herum steht. Das ist das einzige, was sich verändert hat.
RAFAEL: Ja, am Anfang war da gar kein Zaun und dann gab es mal so einen Bauzaun…
ALBINA: Ich hab mal die Sozialarbeiter vom ASB gefragt, wieso wir den Zaun überhaupt brauchen. Weil in den ersten zwei Wochen Quarantäne musst du im Quarantäne-Gebäude bleiben. Und das bedeutet, dass du nicht nur einen Zaun um dich herum hast, sondern der Zaun ist noch mit so einer Art Stoff zugehängt. Ich hab gefragt: „Warum, vor wem versteckt man uns?“ Sie meinten, das wäre um unsere Privatsphäre zu schützen. Aber Entschuldigung, das Gebäude daneben ist genauso Teil der Erstaufnahmestelle und da gibt es keinen Stoff am Zaun. Das ist schon merkwürdig.
RAFAEL: Und was war das für ein Gefühl, da drinnen zu sein?
ALBINA: Was für ein Gefühl fragst du? Naja. Die ersten zwei Wochen, wenn du in Quarantäne musst, fühlst du dich eingesperrt. Ein Gefühl, das ich keinem wünschen würde. Da hast du keine Möglichkeiten, keine Bücher, keine Gesprächspartner, kein normales Essen. Das ist ein riesengroßes Problem. Seit ich dort war, versuche ich dieses Problem zu lösen, aber keiner will etwas daran ändern. Ich habe schon mit vielen deswegen gesprochen. Wie kann man sich da fühlen? Da kannst du nur auf kleinem Raum so hin und her laufen. Hast du schon mal Tiere im Zoo gesehen? Als ich klein war, war ich im Zoo und da ist es genauso. Klein und mit Gittern. Kleine Zellen, in denen die Tiger und die Bären hin und her laufen. Schön ist das nicht. Und wie soll man sich da fühlen, wenn man zum Beispiel gesundheitliche Probleme hat? Dann kannst du da nicht raus. Du kannst keinen Arzttermin bekommen, wenn du in Quarantäne bist. Du wirst mit Tabletten gefüttert. Wie soll man sich da schon fühlen, wieso reden wir da noch drüber?
Was sie jetzt machen: sie entwickeln Konzepte für Corona, damit sie keine Strafe bekommen. Damit sie zeigen können, dass es auch während Corona geht. Sie haben das entwickelt, als man gesagt hat: „Es geht schon drei Monate, macht bitte ein Corona-Konzept für diese … Institution.“ – Herr Adams sagt immer: „Bitte nennen Sie das nicht Lager. Das ist eine Erstaufnahmeeinrichtung, kein Lager.“ Aber Entschuldigung, wo ist denn der Unterschied zu Moria, wo es überall Zäune und Gitter gibt und Securities und Wächter. Natürlich ist es da schlimmer als hier, aber im Prinzip ist es das Gleiche. Ein Lager. Die haben dieses Konzept entwickelt, in dem steht: Wenn eine Person positiv getestet wird, dann bleiben anstatt der 600 Menschen, die jetzt in dem Lager sind, nur 300 Menschen da. Was passiert dann mit den anderen 300? Ich fand das interessant. Jetzt gibt es schon einige Menschen da, die positiv getestet wurden. Diese Menschen wurden jetzt einfach eingesperrt. Die dürfen jetzt nur noch auf die Toilette und in die Dusche. Da sind Familien. Da sind Kinder. Die haben nichts zum Spielen, nichts um sich zu beschäftigen. Für mich als Erwachsene war das schon unmöglich. In Quarantäne kannst du überhaupt nicht rausgehen. Das einzige was du mit hast, sind ein paar Klamotten und sonst nichts. Du bekommst Hygieneartikel, eine Tasse und einen Teller. Du hast keine Bücher, nichts. Ich fand das so schrecklich. Du fühlst dich wie ein Papagei. Ich war da insgesamt 10 Tage. Und schon am Wochenende, nach der ersten Woche, hatte ich das Gefühl, dass ich alles kaputt machen wollte. Ich bin eigentlich ein ruhiger Mensch – hab ich versucht, mich zu überzeugen. Die Securities haben dann auch nichts gesagt, weil die das alles verstehen können. Ich hab mit vielen gesprochen.
RAFAEL: Du hattest auch geschrieben, dass du Zahnschmerzen hattest und keinen Termin kriegen konntest.
ALBINA: Ja, ich hatte die ersten sechs Tagen Zahnschmerzen. Danach hab ich es doch geschafft mit dem Chefarzt zu reden, der meistens in einem anderem Gebäude sitzt. Er hat gesagt, dass das natürlich überhaupt nichts mit der Quarantäne zu tun hat. Natürlich dürften wir zum Zahnarzt, natürlich machen wir sofort einen Termin. Aber ich frage mich: Die Krankenschwestern, die bei uns im Quarantäne-Gebäude waren, die sind doch Mitarbeiter und führen das aus, was der Chefarzt sagt. Ich frage mich, wie das möglich ist. Es ist ziemlich traurig, weil im Quarantäne-Gebäude hast du wirklich keine Möglichkeiten, wenn du irgendwelche Krankheiten hast, Diabetes zum Beispiel. Natürlich kriegst du Tabletten, aber du kannst nicht raus für Arzt-Termine. Oder du musst dafür echt einige Tage kämpfen, dein Recht auf medizinische Versorgung beweisen.
RAFAEL: Und dann noch in einer anderen Sprache …
ALBINA: Nein, ich hab das auf Deutsch gemacht. Das haben sie aber auch auf Deutsch erst nach sechs Tagen verstanden.
RAFAEL: Ich meine, für andere, die kein Deutsch sprechen ist das wahrscheinlich noch schwieriger.
ALBINA: Ja. Das ist aber nur eins von vielen Problemen. Ich weiß nicht, ob du es gesehen hast, aber ich habe die Probleme in einem Memorandum aufgelistet. Alle anderen Probleme kann man in diesem Memorandum nachlesen.
RAFAEL: Und du hast schon versucht, das an verschiedene öffentliche Stellen zu schicken?
ALBINA: Als ich noch in Suhl war, hab ich es bei den Leuten in der Erstaufnahmestelle selbst versucht. Anfangs bei den Ärzten, Krankenschwestern und Sozialarbeitern. Dann bei der Leitung der Sozialarbeiter und danach bei der Leitung der Erstaufnahmeeinrichtung. Die alle hab ich stufenweise angesprochen. Das komischste Gespräch, an das ich mich erinnern kann, war das Gespräch mit der Leiterin vom ASB, der Sozialarbeiter. Ich bin hin gegangen und hab gesagt: „Sie haben Probleme in Ihrem Lager. Es gibt kein normales Essen für Kinder. Dann gibt es dieses Problem, jenes“ Dann ein drittes, viertes und fünftes. Da hat sie mich gefragt: „Wer bist du denn, mir das zu erzählen? Wir wissen selber, was wir für Probleme haben.“ In dieser Manier: „Geh bitte raus, du hast keine Probleme. Da stehen im Flur andere Menschen, die tatsächlich Probleme haben.“ Ich hab sie dann nach ihrem Namen gefragt, um wenigstens zu wissen mit wem ich gesprochen habe. Damals wusste ich nicht, dass das die Chefin Jeannette Roth war. Ich war nur gekommen um mit einem Sozialarbeiter zu reden. Sie hat mir ihren Namen nicht genannt. Ich denke, sie würde mit dir zum Beispiel nicht so sprechen. Oder mit einem Mensch, bei dem sie sicher ist, dass er seine Rechte kennt. Wo sie sicher ist, dass er hundert Prozent gut Deutsch spricht. Bei dem sie weiß, dass sie für das, was sie sagt, zur Verantwortung gezogen wird. Anscheinend dachte sie, das ist bei mir nicht der Fall. Sie hat mir vorgeschlagen, dass ich doch auf deren Website gehen soll. Sie hat mir die Webseite gezeigt. Danach, als ich schon aus dem Lager raus war, habe ich es weiter versucht, weil ich noch Verbindungen zu vielen Menschen habe, die entweder noch dort sind oder schon aus Suhl raus. Ich habe es weiter versucht, wenigstens mit diesen Themen wie Essen oder Spielzeug. Jemand der Kinder hat, soll mal versuchen, die einfach in ein Zimmer sperren, die können ja nirgendwo selber hin. Drei mal pro Tag bekommen sie Essen. Um 8, um 1 und um 5. Danach nicht mehr. Wenn das Kind nachts essen will, ist es nicht erlaubt. Offiziell ist es nicht erlaubt, weil es keine Kühlschränke gibt, weil das wohl die Gefahr birgt, dass Insekten oder Ratten kommen. Die Kinder dürfen nachts nicht essen. Außerdem haben deine Kinder keine Möglichkeit, zur Schule oder in den Kindergarten zu gehen. Es wird gesagt, dass ja unklar sei, wie lange man in Suhl bleibt und es mache keinen Sinn die Kinder in der Schule anzumelden. Aber die Menschen, besonders große Familien, bleiben da sieben oder acht Monate. In der ganzen Zeit gibt es kein Recht auf Ausbildung, oder darauf seine Freizeit normal zu verbringen. In all diesen Fragen wurde versagt.
RAFAEL: Einfach weil man denkt, dass sich sowieso niemand beschwert?
ALBINA: Ja, da beschwert sich tatsächlich niemand, weil die meisten Menschen vor etwas Schlimmeren weg gerannt sind und denken: „Okay, hier bin ich nicht unter Beschuss. Gut.“ Die meisten denken außerdem, wenn sie etwas sagen, wenn sie versuchen ihre Rechte einzufordern, dass sie dann Probleme kriegen könnten zu bleiben. Die haben einfach Angst.
RAFAEL: Kann ja auch real so sein, oder?
ALBINA: Nein das kann nicht sein. Das kann keinerlei Auswirkung haben, weil die Verantwortlichen für den Aufenthalt der Menschen nicht der ASB oder die Lagerleitung sind. Die sind nur da, um das alles im Rahmen zu halten.
RAFAEL: In was für Formen würdest du dir Solidarität wünschen? Du hast ja auf viele Probleme hingewiesen, wo einfache Menschenrechte nicht eingehalten werden.
ALBINA: Du meinst, auf welche Hilfe ich hoffe? Oder Solidarität? Dieses schöne Wort, was einem überall zugesteckt wird. Das ist eher schon politisch gefärbt. Naja. Ich hoffe, dass sich die Situation bald verändert, besonders mit dem Essen oder den Spielzeugen. Wir haben vor fast einem Monat Spielzeug gebracht. Ich und einer von den Securities. Ich muss schon sagen, dass die Securities in der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl toll sind, auf die bin ich stolz. Das ist etwas, wo ich mich manchmal frage, woher sie diese Geduld nehmen. Es gibt natürlich ein, zwei, die in der Kantine stehen und am Ausgang den Kindern das Essen abnehmen, was sie mit rausnehmen wollen. Aber jeder Mensch in dem Lager in Suhl weiß, um wen es da geht; egal ob Arbeiter oder Bewohner. Ich hoffe jedenfalls, dass es sich schnell verändert. Wenn es sich nicht verändert, muss man einen nächsten Schritt gehen. Ich denke, ein Gericht sollte helfen. In Deutschland gibt es diese wundervolle Institution Gericht. In Berlin gab es diese Demo, die von der Regierung eigentlich verboten wurde, aber das Gericht hat dann gesagt, dass sie doch stattfinden darf. Dann gab es tatsächlich auch eine Demo, obwohl die Regierung nein gesagt hat. Bei uns gibt es so etwas nicht. Wenn eine Regierung nein sagt, dann sagt das Gericht auch nein. Ich hoffe, es gibt einen freundlichen diplomatischen Weg, bei dem man miteinander spricht und etwas verändert. Wir haben auch Unterstützung angeboten. Wir haben ja dieses Spielzeug ins Heim gebracht und es wurde einfach weggesperrt, obwohl wir gesagt haben, dass es sofort an die Kinder verteilt werden soll. Das hat irgendwie nicht so richtig geklappt. Ich weiß nicht warum. Ich denke die Menschen, die beim ASB arbeiten und die als Leitung in der EAE Suhl sind, sind einfach unprofessionell. Klar gibt es beim ASB auch zwei Menschen maximal, die tatsächlich was Gutes tun, die versuchen etwas zu verändern. Aber wozu sind dann eigentlich alle anderen da? Wofür bekommen die ihr Geld? Genauso ist es mit der Leitung. Vor kurzem gab es die Information, dass Securities in der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl Gewalt ausüben. Die haben Frauen gestoßen und so weiter. Jetzt wurden die drei Securities angezeigt. Aber keiner sieht, wer tatsächlich schuld ist. Nicht die Menschen, die im Zimmer gekocht haben, obwohl es verboten ist. Nicht die Securities, die versucht haben, die Kochplatte wegzunehmen und die Aluminiumfolie von den Rauchmeldern abzumachen. Sondern die Lagerleitung ist schuld. Sie müssten einfach dafür sorgen, dass die Menschen normales Essen bekommen, dann müssten sie nicht im Zimmer kochen. Aber das sieht ja keiner. Für Menschen ist es einfacher, jemanden schuldig zu sprechen, der ganz klein ist, ein kleiner Security. Anstatt Dirk Adams, oder Herrn Ramelow. Sogar einen Verantwortlichen für diese Einrichtung zu finden ist wirklich schwer. Was würdest du sagen, wer ist verantwortlich für eine Erstaufnahmestelle in der Stadt Suhl?
RAFAEL: Anscheinend schon das Land.
ALBINA: Das Land? Du meinst Mama Merkel?
RAFAEL: Nein, Thüringen.
ALBINA: Du hast also schon gelesen, dass der Oberbürgermeister gesagt hat, dass er keine Verantwortung für diese Erstaufnahmestelle trägt. Aber warum eigentlich? Sie befindet sich in der Stadt Suhl. Warum trägt er keine Verantwortung? Wenn etwas passiert, kommt die Polizei von Suhl. Wenn irgendjemand Hilfe braucht, kommt der Rettungsdienst von Suhl. Und er sagt, dass er keine Verantwortung trägt und wir sollen jemand anderen suchen, der das alles verändert?
RAFAEL: Die Polizei untersteht sogar auch dem Land und nicht den Städten.
ALBINA: Und wofür ist Herr Knapp da? Damit er dann im MDR in einem Interview sagt, dass wegen der Flüchtlinge deutsche Kinder nicht auf die Straße gehen könnten, weil sie Angst hätten?
RAFAEL: Dafür ist er nicht da, nein.
ALBINA: Anscheinend ist er nur dafür da. Ich finde das absolut unverantwortlich. Ein Mensch wird doch nicht als Rassist geboren. Er wird zu dieser Rolle erzogen, wie auch für alle anderen Rollen. Wir können so den Menschen auch zu Liebe erziehen. Und was macht der Herr Knapp? Er sagt, dass Flüchtlinge “böse” sind und dass die Flüchtlingskinder anders sind als die anderen Kinder aus Suhl. Wo ist der Unterschied zwischen den Kindern? Die haben nicht entschieden, hierher zu kommen. Die tragen keine Verantwortung dafür, dass ihre Eltern wegen Krieg oder was auch immer hierher gekommen sind. Ich weiß nicht, wo der Unterschied sein soll, außer, dass die Kinder vielleicht keine weißen Haare haben. Was denkst du, wie oft ist das Jugendamt in der Erstaufnahmestelle? Gar nicht. Es gab Anfang September in Suhl so Tage, als es sechs Grad kalt war und die Kinder immer noch im Kleidchen rumliefen. Da würden bei jeder deutschen Familie die Nachbarn die Polizei oder das Jugendamt rufen, wenn sie das sehen würden, dass die Kinder nicht dem Wetter angemessen anzogen sind. Die sind in einer halben Stunde da. Aber das sind anscheinend irgendwelche anderen Kinder, oder gar keine. Ich hab deswegen auch die Sozialarbeiter angesprochen, ob wir das Jugendamt ins Heim bringen sollten. Das Jugendamt hat doch die Aufgabe, mit den Eltern zu arbeiten, aufzuklären.
RAFAEL: Oder die Aufgabe, den Eltern zu helfen, wenn sie nicht die Ressourcen haben.
ALBINA: Richtig, auch Eltern zu helfen. Mir wurde aber erklärt, dass das Jugendamt nur geholt wird, wenn die Eltern ihre Kinder schlagen.
RAFAEL: Willst du irgendetwas erzählen, wie du aufgewachsen bist und ob da Diskriminierung eine Rolle gespielt hat?
ALBINA: Ach Mensch. Also ich bin in einer Millionenstadt aufgewachsen. In einer Region, wo es 130 Nationalitäten gibt, dem Donbass. Ich weiß nicht, ob dieser Begriff in Deutschland überhaupt bekannt ist: Völkerfreundschaft. Eure Eltern, die in der DDR lebten, kannten das bestimmt. Auf jeden Fall gab es in der Sowjetunion und auch im postsowjetischen Raum diese Völkerfreundschaft. Und wir haben die – ok, hatten. Weil seit 2014, als der Krieg angefangen hat, sind viele weg gegangen, viele sind in ihre Heimat zurückgekehrt, weil niemand freiwillig unter Beschuss leben wollte. Aber bei uns gab und gibt es immernoch Deutsche, Griechen und viele andere. Das ist wirklich eine Stadt mit vielen Nationalitäten. Es gab nie sowas, dass man dir sagt “Ey, du Schwarzer” oder so. Ich hab das nie am eigenen Leib erlebt und hab das auch nie gesehen. Deshalb ist es manchmal für mich zumindest am Anfang schwierig gewesen, in diese Themen einzusteigen in Deutschland. Mir war das nicht so richtig klar. Naja, dieser Mensch kommt aus einem anderen Land. Naja, du bezahlst diesen Mensch in den ersten paar Jahren hier aus deinen Steuern. Aber ihr lebt doch jetzt zusammen auf einem Territorium, wie kannst du ihn beschimpfen? Das war mir nicht so richtig klar, weil bei uns gab es so etwas nicht. Ja, meine Stadt ist schön. Wenn es eine Stadt gibt, die noch schöner als Weimar ist, dann ist es Donezk. Das ist die Stadt der Millionen Rosen. In unserer Stadt waren eine Million Menschen. Und für jeden Mensch wurde in sowjetischen Zeiten ein Rosenbusch gepflanzt. Wenn dann alles blüht, dann ist alles voll mit Rosen. Deutschland ist schön, aber wenn ich die Möglichkeit hätte zurück zu fahren, wäre das das erste was ich machen würde. Das zu deiner Frage, wo ich aufgewachsen bin. Da gibt es keinen Rassismus, da gibt es Völkerfreundschaft.
RAFAEL: Was hast du für Wünsche?
ALBINA: Ich wünsche mir Frieden, wünsche mir friedliches Zusammenleben. Mit den Menschen hier. Dass die Menschen einfach lernen zusammenzuleben, denn heutzutage klappt es eigentlich nicht so gut. Und kurzfristig wünsche ich mir tatsächlich, dass sich in der Erstaufnahmestelle etwas verändert – okay, nicht dass sich etwas, sondern dass sich alles ändert. Da muss man jetzt nicht Einzelfälle lösen, oder einzelnen Menschen helfen. Man muss die ganze Struktur ändern. Kehrt machen, von dem was jetzt da ist und eine neue Struktur schaffen.
RAFAEL: Wie könnte das aussehen, das komplett umzudrehen? Dass man einfach von den Bedürfnissen und den Rechten der Menschen ausgeht?
ALBINA: Wir sind an dem Punkt, an dem es so nicht weitergeht, wenn wir es jetzt nicht komplett verändern, die Struktur komplett anders gestalten. Dann gibt es bald richtige Probleme. Es gab schon Fälle, in denen die Menschen da alles komplett boykottiert haben. Ich war zu der Zeit nicht da, mir wurde das erzählt. Es gab wohl Proteste. Und danach gab es irgendwelche Veränderungen, aber nur, um die Menschen ruhig zu stellen. Das muss grundlegend verändert werden.
RAFAEL: Ich verstehe auch nicht, dass Leute dann so lange da bleiben müssen.
ALBINA: Das Problem ist – das habe ich auch in meinem Blog geschrieben: wenn du ein Mensch mit sogenannten Behinderungen bist, oder chronische Krankheiten hast, dann bist du ein Asylbewerber zweiter Klasse. Dann musst du viel länger warten, denn keine Kommune will dich dann. Das ist auch institutioneller Rassismus. Es gibt viele Familien, von denen jemand Behinderungen hat, die sind da ewig. Die können nicht mehr warten. Ich hab diesen Fall auch schon tausend Mal beschrieben. Ich hab versucht Menschen anzusprechen. Es gab einen Menschen, der ist mit seinen eigenen Beinen gekommen. Die haben ihn so lange da behalten, bis er in den Rollstuhl musste. Er konnte seinen Arm dann auch nicht mehr bewegen. Er hatte Magenprobleme und war ständig beim Arzt. Hat versucht zu erklären, dass er das Essen nicht essen kann. Das ist dann vielleicht Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und Krankheiten. Die werden ja tatsächlich diskriminiert, denn die müssen länger bleiben. Vielleicht ist das auch nicht die Schuld der Leitung in Suhl, weil die Kommunen möchten die nicht nehmen. Für die kostet das dann viel Geld, und die möchten das einfach nicht.
RAFAEL: Falls du das auch noch mal sagen willst, obwohl es schon in deinem Blog steht: du hast da beschrieben, dass es sich auch unsicher anfühlt, weil man die Zimmer gar nicht abschließen kann.
ALBINA: Ja, und ich denke, das geht nicht nur Frauen so, sondern auch Männern oder Jungen. Es ist ja auch normal, dass man Privatsphäre braucht. Es gab natürlich Ausnahmen, zum Beispiel für Menschen, die transgender sind. Denn die wurden von anderen Mitmenschen, die da leben, diskriminiert. Leute die zum Beispiel aus Tschetschenien kommen, die verstehen das nicht. Für die ist das merkwürdig. Die besprechen das, kichern.
RAFAEL: Ja, auch Deutsche machen das leider.
ALBINA: Die transgender Person fühlte sich unsicher, dann hat man ihr einen Schlüssel gegeben. Aber es gab Fälle, die ich mitgekriegt habe, wo nachts eine schwangere Frau kommt und nach einem Schlüssel fragt, weil ein besoffener Mann in ihr Zimmer gekommen ist. Es gibt ja ein Familienhaus, ein Quarantänegebäude und ein Haus für einzelne Männer. Und die können jeweils nicht in die anderen Gebäude rein. Dafür sind die Securities da, die das alles kontrollieren. Das Problem ist, dass es auch im Familiengebäude viele Jungs oder Männer gibt. Wenn die besoffen sind, interessiert es die nicht, ob sie zu ihrer Familie reingehen oder zu dir. Da kannst du ja überall rumlaufen. Ich weiß nicht, frag mal eine andere Frau hier in der Stadt, ob sie in einer Gemeinschaftsunterkunft leben könnte. Wenn sie weiß, dass in der Nähe Männer sind, die manchmal besoffen oder unter Drogen sind. Da fühlst du dich natürlich unsicher.
RAFAEL: Oder ob man hier seine Haustür und Wohnungstür offen lassen will.
ALBINA: Ja genau, das wäre das selbe. Ich finde es total unangenehm, wirklich. Das ist eigentlich überall so. Nicht einmal die Dusche kannst du zuschließen. Wenn du zuhause bist, kannst du ja sicher sein, dass dich niemand beim Duschen stört, da brauchst du nicht zuschließen. Aber dort kann jeder einfach vorbeikommen und du hast nur so einen Vorhang. Das ist aber eigentlich nicht das größte Problem. Das mit den Zimmern ist tatsächlich ein sehr großes Problem. Und Herr Adams meint, wichtiger wäre eine Videoüberwachung für zwei Millionen Euro zu installieren, als einfach Schlüssel auszuteilen, die seit 2014 nicht ausgeteilt werden. Und wenn du fragst, warum es keine Schlüssel gibt, kommen sie mit Brandschutz. Sorry, aber da müsste man auch alle Hotels schließen.
RAFAEL: Haben wir irgendetwas vergessen, was du noch gerne erzählen möchtest?
ALBINA: Wir könnten ewig reden, aber ich denke die Hauptpunkte haben wir besprochen. Ich wünsche mir tatsächlich, dass endlich Leute begreifen, dass man zusammenleben kann. Flüchtlinge sind ja nicht hierher gekommen, weil sie in der Heimat ein gutes Leben hatten. Die sind nicht hierher gekommen, um Deutschen ihre Arbeit oder ihr Geld wegzunehmen. Ich finde, es ist schon wichtig, diesen Menschen eine Ausbildung zu geben, auch wenn sie ohne eine hierher gekommen sind. Wenn man all diese Menschen ausbildet – 50, 100, 1000 Menschen – und dann zurück in ihre Länder schickt, das ist die einzige Möglichkeit, dass in der Zukunft weniger Flüchtlinge kommen. Wenn man Menschen hier rein lässt und sie nach einer bestimmten Zeit wieder raus wirft, dann weiß ich nicht, ob es etwas bringt. Außer dass Menschen vielleicht Selbstmord begehen. Da kenne ich auch einige Fälle. Ein Iraner zum Beispiel, der hat Selbstmord begangen, weil er wusste, dass er einfach nicht zurück in sein Land kann. Ihm wurde einfach nicht geglaubt. Zusammenzuleben ist die einzige Möglichkeit. Das ist so wichtig, dass die Menschen das begreifen. Was ich auch noch sehr wichtig finde, was auch das Ziel deines Projektes ist, ist, dass die Menschen im Dialog sind, miteinander reden. Das was wir heute immer weniger sehen, auch hier in Deutschland. Wenn du einem Linken vorschlägst, sich morgen an einen Tisch mit einem Rechten zu setzen, der guckt dich an: „Ich, mit einem Rechten was zusammen machen?“ Es geht doch nicht darum, etwas mit ihm zusammen zu machen, diese Ideen zu unterstützen. Es geht darum, einen Dialog zu führen. Es geht darum, dass du deinem Gegenüber, egal wer es ist, wenn du etwas nicht verstehst, eine Stimme gibst. Und die Flüchtlinge haben meistens keine Stimme, weil sie kein Deutsch können. Und ein Mensch, der keine Stimme hat, der kann seine Meinung nicht mitteilen. Und die Menschen, die ihre Meinung vertreten sollten – wie Sozialarbeiter, Rechtsanwälte und so weiter – machen alles mögliches, damit diese Meinung, dieser Hilfeschrei nicht gehört wird. Bis es eines Tages zu spät sein wird. Und vielleicht möchten Flüchtlinge ja gar kein Sozialgeld bekommen. Ich kenne einen Jungen in meiner Unterkunft in Weimar, der hatte sich in seinem Land ausbilden lassen als Sozialarbeiter. Der kann drei Sprachen. Er hat vor einem Monat einen negativen Bescheid bekommen. Warum schiebt man ihn ab? Warum schickt man ihn nicht nach Suhl, wo sie schreien: „Wir haben einen Mangel an Sozialarbeitern!“ Man versucht, diesen Menschen wegzuschmeißen statt ihn richtig zu verwenden. Er könnte mit seinem Migrationshintergrund den Menschen viel besser helfen, als die die teilweise auch ohne Ausbildung dort arbeiten. Das sind so Fragen, die ich wirklich unendlich stellen könnte. Wer beantwortet die alle, frage ich.
RAFAEL: Gibt es noch etwas, das Leute speziell aus Suhl machen sollten?
ALBINA: Kennst du dieses Projekt von der Caritas? Die haben ein Projekt in einem Dorf gestartet, bei dem Deutsche Patenschaften mit Leute mit Flüchtlingshintergrund aufgenommen haben. Das bedeutet gar nicht, dass du als Deutscher den ganzen Tag mit dem Menschen verbringen musst, oder ihm alles erklären musst. Einfach, dass du mit ihm in Kontakt bist. Das gibt dem Menschen das Gefühl, dass er hier nicht alleine ist. Was heutzutage leider nicht so ist. Heutzutage sind die Menschen in Suhl vor der Öffentlichkeit versteckt, hinter diesem Zaun, hinter den Gittern. Heute gibt es keinen Dialog. Heute haben sogar die Ärzte Angst, dahin zu fahren, weil „die sind doch so gefährlich“. Die Menschen in der Stadt haben Angst vor diesen Menschen. Denn es wird immer wieder in Zeitungen gesagt, dass zum Beispiel Busfahrer sich weigern, bis zum Friedberg zu fahren, weil es gefährlich wäre. Später sind die Busfahrer dann die Strecke nur noch mit Begleitung von der Polizei oder Security gefahren. Ich denke, die Menschen werden in Angst versetzt. Die Menschen kennen nicht die aktuelle Lage. Als ich diesen offenen Brief veröffentlicht habe auf irgendwelchen Seiten, haben die Menschen aus Suhl angefangen zu schreiben, dass es da keine Kinder gäbe, sondern nur „bärtige Minderjährige“. Klar, Mann. Oder: „Diese Menschen werden versorgt, und wir bezahlen dafür aus unseren Taschen.“ Sowas hörst du ganz oft. Natürlich nicht ohne Grund – weil die Menschen selber keinen Kontakt aufbauen. Sie haben keine Bezugsperson, die können mit keinem darüber sprechen. Die bekommen nur die Informationen, die man um sie herum erzählt und die in den Zeitungen stehen.